Montag, 7. September 2015

Dortmund Hauptbahnhof Anfang September 2015

KEIN TAG WIE JEDER ANDERE!!!Unsere Reporter waren heute bei der Ankunft der 1500 #Flüchtlinge am #Dortmunder Hauptbahnhof. Was sich dort abgespielt hat, war Gänsehaut pur. Das passiert wenn Menschen auf Menschen treffen. Wir lassen das Video wohl lieber unkommentiert. Nur eine Sache sei gesagt: #Welcome

Posted by 17:30 SAT.1 NRW on Sonntag, 6. September 2015

Karl-Heinz Graf: Auf der Flucht und doch dem Himmel so nah. Predigt zu Genesis 28,10-22

Markus Frank: Jakobs Flucht vor Esau. Oder: Schreibt Gott auf krummen Linien schön? Predogt zu Genesis 27-31 in Auswahl


Vorbemerkung des Verfassers:
Beim Predigen ist Vieles dann doch wieder nochmal ziemlich anders geworden als im Manuskript festgehalten. Verbindlich ist das gesprochene Wort. Bitte alle Formfehler stillschweigend zu überlesen.
Und: Fast alle Entdeckungen und Einsichten zur Erzählung von Jakob und Esau sind nicht auf meinem Mist gewachsen.

Liebe Gemeinde,
Geschichten zu Flucht, Vertreibung und Heimat.
Ein älterer Mann aus Aleppo ist mir über den Fernseher vor Augen. Er ist dort geblieben. In Aleppo. In seiner Heimat. Er ist nicht geflohen aus dieser Stadt voller zerbombter Häuser und sinnlos getöteter Menschen. Ein verzweifelter Rufer in der Wüste der Zerstörung: „Gott,/Allah, was haben wir getan, dass Du das über uns hereinbrechen lässt?“
Geschichten zu Flucht, Vertreibung und Heimat.
Menschen an den Grenzen, die ihren oft traumatisierten Menschengeschwister die Aufnahme verweigern, Ängste schüren und Schutzbedürftige bedrohen (Heidenau), aber auch bis an die Grenze ihrer Kräfte gehen, dass die Fliehenden Zuflucht finden. Mitten in Europa.
Geschichten zu Flucht, Vertreibung und Heimat.
Es ist schon eine Zumutung an den Glauben an die Fähigkeit von uns Menschen zum Guten und immer wieder auch für den Glauben an einen liebenden Gott, der auch das Schlimmste zum Guten wenden kann und will.
Biblische zu Flucht, Vertreibung und Heimat.  Wie gut, dass die Bibel solche Geschichten kennt und erzählt.  Und damit ermutigt, dass auch die schlimmste Geschichte erzählt werden kann. Vielleicht ist es das Vornehmlichste, was wir als Kirche Jesu Christ, als Kirche des auferstandenen Schmerzensmanns tun können: Räume zu schaffen, in dem solche Geschichten erzählt werden.
So auch heute morgen.
Als ich vor Monaten das Thema diesen Gottesdienst angeben musste, wählt ich als Unterüberschrift der Geschichte von Jakobs Flucht vor seinem Bruder Esau die Frage: „Schreibt Gott auf krummen Linien schön?“
Die krummen Linien sollten in einem Bild ausdrücken, dass es wohl kein Menschenleben gibt, das völlig glatt und gradlinig verläuft. Wir alle sind bis heute so manchem Umweg gegangen. Wir alle tragen Verletzungen und Enttäuschungen  in unserer Seele, manche auch an ihrem Leib.  Nicht wenige der Menschen, die z. B. aus Syrien zu uns kommen, haben Unaussprechliches erlebt tragen Traumata in sich, die sie wohl ein Leben lang begleiten werden. Allein, dass solche Erfahrungen in einer von Gott sehr gut geschaffenen Welt möglich sind, kann einen am Leben und wohl auch an Gott irre werden lassen und vor allem wütend über die Verdreher alles Guten, auch des Glaubens.
Es ist aber ist aber auch möglich, den Blick auf die Hoffnung und Kraft  zu richten, dass es nicht dabei bleiben muss und wird: Gott schreibt auf krummen Linien schön!
Deshalb begraben wir unsere Träume von einer möglichen bessern Welt nicht und auch nicht von einem Himmel, in dem einst alles zurecht gebracht wird. Und die verwaisten Kindersoldaten wieder sorglos mit ihren Eltern spielen. Und kein Mensch mehr auf der Flucht ist.
Ein Leben in diesem Glauben an einen liebenden Gott, der auf den krummen Linien unseres Lebens schön schreibt, hat allerdings einen Preis, den das Evangelium zu zahlen auffordert.  Von diesem Preis erzählte uns schon die Schriftlesung und auf ganz eigene unsere heutige Geschichte, die Erzählung von Jakob und Esau. Zu finden im 1. Mosebuch, besonders ab Kapitel 27. Und sie tut es so nah an unsrem menschlichen Leben entlang, dass sie unsere Träume und Wünsche vom Himmel auf wunderbare Weise erdet.
In der Bibel finden sich eine ganze Reihe von Brüdererzählungen. Oft sind es Konfliktgeschichten. Sie handeln von Konflikten zwischen den Brüdern und deren Lösung. Gleich beim ersten Brüderpaar Kain und Abel besteht die Lösung im Brudermord – die denkbar schlechteste Lösung. Bei Ismael und Isaak steht der Konflikt zwischen den Müttern im Vordergrund, und so wird die Mutter Ismaels mit ihrem Sohn vertrieben. Bei Josef und seinen Brüdern geht bekanntlich alles gut aus. In Jesu Gleichnis vom verlorenen Sohn hat der Vater eine wichtige Rolle. Aber auch da spielt im Hintergrund ein Bruderkonflikt mit –die Lösung bleibt offen. Heute nun richtet sich unser Blick auf Jakob und Esau.
Im Fall von Jakob und Esau geht es um einen handfesten Streit zwischen Brüdern, zwischen Zwillinge sogar. Schon im Mutterleib geht das Gerangel los. Rebekka, die Mutter, klagt:
Wenn mir's so gehen soll, warum bin ich schwanger geworden? Und sie ging hin, den HERRN zu befragen.  23 Und der HERR sprach zu ihr: Zwei Völker sind in deinem Leibe, und zweierlei Volk wird sich scheiden aus deinem Leibe; und ein Volk wird dem andern überlegen sein, und der Ältere wird dem Jüngeren dienen.  24 Als nun die Zeit kam, dass sie gebären sollte, siehe, da waren Zwillinge in ihrem Leibe.  25 Der erste, der herauskam, war rötlich, ganz rauh wie ein Fell, und sie nannten ihn Esau.  26 Danach kam heraus sein Bruder, der hielt mit seiner Hand die Ferse des Esau, und sie nannten ihn Jakob. (Gen 25,22-26)
Als erstes kauft Jakob dem Älteren seinen Vorrang als Erstgeborener ab – um ein Linsengericht, was bekanntlich bei uns zum Sprichwort geworden ist. Das scheint noch tragbar, verglichen mit dem, was dann kommt. In enger Zusammenarbeit mit seiner Mutter macht sich Jakob, der Jüngere, daran, den blinden Vater willentlich und arglistig zu täuschen, um Esau den Erstgeburtssegen abzuluchsen. Rebekka hatte Jakob lieb steht da.
Esau plant Jakob umzubringen, aber erst nach dem Tod des Vaters und Rebekka rät Jakob, zur Verwandtschaft zu fliehen.
Mach dich auf und flieh zu meinem Bruder Laban nach Haran  44 und bleib eine Weile bei ihm, bis sich der Grimm deines Bruders legt  45 und bis sein Zorn wider dich sich von dir wendet und er vergisst, was du ihm getan hast. (Gen 27,43-45)
„… bis er vergisst, was du ihm angetan hast“, hatte Rebekka zu Jakob gesagt. 20 Jahre blieb Jakob in der Fremde. Er heiratete zwei Frauen, er bekam elf Söhne und eine Tochter. Er wurde sehr reich an Herden, Vieh und Menschen. Doch als er endlich zurückkehrt, weiß er: Sein Bruder hat nichts vergessen. Einfach Wegsein – und wenn es 20 Jahre sind – ist keine Versöhnung. Und wo die Wunden so tief sind, kann es auch kein Vergessen geben.
Als Jakob zurückkehrt, ist ihm klar, dass er nicht so tun kann, als sei nichts gewesen. Er schickt – noch aus sicherem Abstand – Boten zu seinem Bruder.
Und er beauftragte sie: So sprecht zu Esau, meinem Herrn: Dein Knecht Jakob lässt dir sagen: Ich bin bisher bei Laban lange in der Fremde gewesen  6 und habe Rinder und Esel, Schafe, Knechte und Mägde, und habe ausgesandt, es dir, meinem Herrn, anzusagen, damit ich Gnade vor deinen Augen fände.  (Gen 32,5-6)
Die Antwort der Boten ist wenig ermutigend. Sie sagen, Esau sei schon unterwegs, ihm entgegen, und bei sich habe er 400 Mann. 400 Mann? Für eine freundschaftliche Begrüßung sind das etwas viel. Der Erzähler vermerkt: Da fürchtete sich Jakob sehr, und ihm wurde bange. (Gen 32,8) Doch sogleich erwacht in ihm wieder das alte Schlitzohr. Er teilt sein Lager in zwei Teile. Seine Rechnung ist einfach:
»Wenn Esau kommt und das eine Lager schlägt, ist das übrig gebliebene Lager die Rettung.« (Gen 32,9, BIGS)
Die Hälfte also schreibt er vorsorglich schon einmal ab. Außerdem stellt er eine gewaltige Abgabe für seinen Bruder zusammen, um ihn zu besänftigen. Der Text zählt es auf – es ist ein schier unermesslicher Reichtum: „200 Ziegen und 20 Ziegenböcke; 200 Schafe und 20 Widder; 30 säugende Kamele mit ihren Jungen; 40 Kühe und 10 Stiere; 20 Eselinnen und 10 Eselhengste.“ Mehr als ein kleines Vermögen bietet er Esau als Geschenk an. Die Worte, die er dazu sagt führen uns ins Herz der Erzählung.
»Versöhnen will ich sein Angesicht durch die Abgabe, die vor meinem Angesicht herzieht. Danach werde ich sein Angesicht sehen, vielleicht hebt er mein Angesicht zu sich empor.«
So ging die Abgabe vor seinem Angesicht her …
Das entscheidende Wort klingt uns im Ohr: Fünfmal ist in diesen wenigen Sätzen vom Angesicht die Rede: »Versöhnen will ich sein Angesicht durch die Abgabe, die vor meinem Angesicht herzieht. Danach werde ich sein Angesicht sehen, vielleicht hebt er mein Angesicht zu sich empor.« 
So weit Jakobs Plan: Die Hälfte seines Besitzes will er durch Teilung der Herden ganz retten. Von der andern Hälfte macht er eine riesige Abgabe. Seine Hoffnung ist, dass er so Versöhnung mit seinem Bruder erreicht. Er weiß: Versöhnung ist nicht umsonst. Zunächst im ganz materiellen Sinn: Sie ist nicht gratis zu haben.
Und doch kommt es ziemlich anders, als er denkt. Denn bevor Jakob Esau trifft, macht er eine ganz andere Begegnung. Es ist noch tiefe Nacht. Jakob schickt seinen ganzen Besitz über den Fluss Jabbok, Esau entgegen. Er bleibt zurück. Da rang ein Mann mit ihm, bis die Morgenröte anbrach. (Gen, 32,2) Lesen wir da äußerst lapidar.
Wer das ist, erfahren wir nicht. „Jemand, ein Mann“ heißt es. Der Kampf geht unentschieden aus. Der Mann haut Jakob aufs Hüftgelenk und verrenkt es ihm. Jakob hält den Mann fest und nötigt ihm einen Segen ab. Der Mann benennt Jakob um. Er soll jetzt Israel heißen. Die Begründung ist: 29 Er sprach: Du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel; denn du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft und hast gewonnen. (Gen 32,29)
Als der Mann fort ist, versteht Jakob, was da geschehen ist. Er benennt den Ort des Geschehens Pniel“, „Angesicht Gottes“. Da ist es wieder, das Angesicht. Aber diesmal nicht das Angesicht Esaus oder das Angesicht Jakobs, sondern das Angesicht Gottes.
Und Jakob nannte die Stätte Pnuël; denn, sprach er, ich habe Gott von Angesicht gesehen, und doch wurde mein Leben gerettet. 32 Und als er an Pnuël vorüberkam, ging ihm die Sonne auf; und er hinkte an seiner Hüfte. (Gen 32,31f)  
Zwei Bewegungen finden sich in der berühmten Geschichte vom Jakobskampf am Jabbok. Scheinbar sind sie gegenläufig. In Wahrheit aber sind sie eng aufeinander bezogen.
Die eine Entwicklung besteht darin, dass zu Beginn des Geschehens Jakob unversehrt und im Vollbesitz seiner Kräfte ist. Am Schluss dagegen ist er „ein Hinkender wegen seiner Hüfte“. Der Mann hat ihn bleibend verletzt. Jakob ist für den Rest seines Lebens eingeschränkt. Er, der ewig Erfolgreiche, dem bisher alles gelungen ist, muss eine massive Einschränkung hinnehmen. Das sieht aus wie eine Bewegung vom Guten zum Schlechten, vom Gesunden zum Behinderten, vom Erfolgreichen zum Geschlagenen.
Es sieht so aus – wenn da nicht im Hintergrund noch eine andere Bewegung wäre.
Als es losgeht und Jakob noch gesund ist, ist es tiefe Nacht. Der Ringkampf, bei dem Jakob auf die Hüfte geschlagen wird und doch nicht unterliegt, geht bis zum Morgengrauen. Und als feststeht, dass er nun dauerhaft hinken wird, heißt es: 32 Und als er an Pnuël vorüberkam, ging ihm die Sonne auf; und er hinkte an seiner Hüfte. (Gen 32,31f) 
Von der Nacht über das Morgengrauen bis zur aufgehenden Sonne: Diese Bewegung ist keineswegs gegenläufig zu der vom Gesundsein zum Hinken.
Im Gegenteil! Sie erklärt erst das Geheimnis dieses Vorgangs. Solange Jakob der Erfolgreiche ist, der seinen Bruder in der Vergangenheit zweimal aufs Kreuz gelegt hat und es jetzt wieder mit gut kalkulierten Tricks versucht, kann es nicht zur Versöhnung mit ihm kommen. Jakob muss im Ringen mit Gott erfahren, dass er in seinen Möglichkeiten begrenzt wird, dass er eingeschränkt wird, um zur Versöhnung fähig zu werden.
Versöhnung ist nicht umsonst. Sie hat nicht nur ihren materiellen Preis. Dass Jakob zur Versöhnung fähig wird, setzt voraus, dass er zuvor Abschied von seinem Selbstbild des ewig Erfolgreichen nimmt. In seinem Hinken, über dem die Sonne aufgeht, findet das seinen symbolischen Ausdruck.
Kaum ist die Sonne über dem hinkenden Jakob aufgegangen, kommt schon Esau mit seinen 400 Mann heran. Aber er fällt nicht über ihn her– wie befürchtet. Vielmehr, so der Erzähler, „lief er ihm entgegen, umarmte ihn, fiel ihm um den Hals und küsste ihn. Da weinten sie“. Die beiden Männer weinen. Sie lassen sich gehen. Sie haben verstanden, dass es Versöhnung nicht geben kann, wo jeder nur seine Machtmittel einsetzt, Esau seine 400 Mann, Jakob seinen Reichtum und seine schier unerschöpfliche Listigkeit.
Jakob nimmt das Geschenk, das er für Esau gedacht hatte, nicht zurück. Esaus Einwand, er habe selbst genug, weist er ab.
Doch Jakob sagte: »Nicht doch. Wenn ich wirklich Wohlwollen und Zuwendung in deinen Augen gefunden habe, dann nimmst du auch meine Abgabe aus meiner Hand an. Schließlich habe ich dein Angesicht gesehen, wie man das Angesicht Gottes sieht, und du hast mich wohlwollend angenommen. Nimm nun meinen Segen an, der dir überbracht wurde. Denn Gott hat sich freundlich gezeigt, und ich besitze die Fülle.« So drang er in ihn und der nahm es an.
Durch die Annahme des Geschenkes ist die Versöhnung hergestellt. Sie ist nicht umsonst – sie hat Jakob etwas gekostet.
Aber sie ist auch nicht umsonst in dem andern Sinn dieses Wortes: Sie ist nicht vergeblich. Indem beide auf ihre Machtmittel verzichten, kann die Versöhnung von Dauer sein. Jakob selbst stellt den Zusammenhang mit seiner Gottesbegegnung am Jabbok her. „Schließlich habe ich dein Angesicht gesehen, wie man das Angesicht Gottes sieht, und du hast mich wohlwollend angenommen.“ In der Gottesbegegnung hat er eine dauerhafte Beschränkung erfahren, aber er ist nicht vernichtet worden. Diese Beschränkung ermöglicht ihm den Verzicht darauf, Esau erneut übervorteilen zu wollen. Es kommt zur Versöhnung.
Zwei Beobachtungen sind mir noch wichtig:
1. Die Aussöhnung ist gelungen. Aber Jakob drängt darauf, entgegen Esaus erstem Wunsch, dass die Brüder sich räumlich trennen. Jeder zieht in seine Richtung, Esau ins Gebirge Seïr, Jakob nach Sukkot. Manchmal ist räumliche Trennung hilfreich, wenn Versöhnung gelebt werden soll.
2. Am Ende der Geschichte von Jakob und Esau stirbt ihr Vater Isaak. Knapp notiert die Erzählung: „Esau und Jakob, seine Söhne, begruben ihn.“ „Esau und Jakob“ – der Erstgeborene wird wieder an erster Stelle genannt. Das Machtspiel zwischen den Zwillingen, das schon im Mutterleib begonnen hatte, ist zum Ende gekommen.
Jakob, der in der Schlüsselszene des Gotteskampfes am Jabbok gelernt hat, seine Beschränkung anzunehmen, kann wieder an die zweite Stelle zurücktreten. Die Versöhnung war wirklich nicht umsonst.
Gott schreibt auf krummen Linien schön!

Amen.
Lesung aus Matthäus 5,21-26 in der Übersetzung der Bibel in gerechter Sprache:
Jesus lehrte seine Jüngerinnen und Jünger:
21 Ihr habt gehört, dass Gott zu früheren Generationen sprach: Du sollst nicht töten. Wer aber tötet, wird vor Gericht als schuldig gelten. 22 Ich lege euch das heute so aus: Die das Leben ihrer Geschwister im Zorn beschädigen, werden vor Gericht als schuldig gelten. Und die ihre Geschwister durch Herabwürdigung beschädigen, werden in der Ratsversammlung als schuldig gelten. Und wer ihnen das Lebensrecht abspricht, wird im Gottesgericht als schuldig gelten. 23Wenn du also im Begriff bist, deine Gabe auf dem Altar darzubringen und dich dort erinnerst, dass eines deiner Geschwister etwas gegen dich hat, 24 so lass dein Opfer dort vor dem Altar und geh’, vertrage dich erst mit deinem Bruder oder deiner Schwester, und dann magst du kommen und dein Opfer darbringen. 25 Einige dich schnell mit Menschen, die dich vor Gericht bringen wollen, solange du noch mit ihnen auf dem Weg bist, damit sie dich nicht aburteilen lassen und du dem Gerichtsdiener übergeben wirst und ins Gefängnis musst. 26 Wahrhaftig, ich sage dir, du wirst von dort nicht freikommen, ehe du nicht den letzten Rest deiner Schulden bezahlt hast.


Sonntag, 6. September 2015

Birgit Mattausch: Aber der Menschensohn hat nichts. Predigt zu Lukas 9,57-62

Text: Lukas 9,57-62
Und als sie auf dem Weg waren, sprach einer zu ihm: Ich will dir folgen, wohin du gehst.
Und Jesus sprach zu ihm: Die Füchse haben Gruben und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege.

Und er sprach zu einem andern: Folge mir nach! Der sprach aber: Herr, erlaube mir, dass ich zuvor hingehe und meinen Vater begrabe.
Aber Jesus sprach zu ihm: Lass die Toten ihre Toten begraben; du aber geh hin und verkündige das Reich Gottes!

Und ein andrer sprach: Herr, ich will dir nachfolgen; aber erlaube mir zuvor, dass ich Abschied nehme von denen, die in meinem Haus sind.
Jesus aber sprach zu ihm: Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes.


Ich will dir folgen, Herr, wohin du gehst
Ich will dir folgen, Herr, wohin du gehst
Ich zieh nur eben andere Schuhe an
Und dann gehen wir 
von hier bis ans Meer
Du, ich, die anderen

Über Feldwege und durch Dörfer
Machen Rast unter Birke und Apfelbaum
Und zählen nachts die Sterne
Wir sprechen von Liebe und Traum
Waschen uns im Fluß und haben einander

Ich will dir folgen, Herr
Ich geh fort von Tisch und Bett
Geh weg von Streit und Tod
Und dann laufen wir
Laufen von hier bis ans Meer
  

Hatices Koffer
Ein Land und eine Grenze und eine Hoffnung und ein Koffer.
Braunes Leder mit Flecken und innen seidengrün.
Was hast du in den einen Koffer gepackt, Valentina, damals?
Und was Du, Hatice?
In den einen Koffer, den ihr mitnehmen konntet?

Ein letztes Mal die Katze füttern.
Der Kuh übers weiche Maul streicheln.
Wer hat euch gewunken, damals?
Wem gabt ihr den Schlüssel eures alten Hauses?
Wo stiegt ihr in den Zug?
Im Koffer vielleicht: ein Foto mit Knick.
An deiner Hand der goldene Ring der Mutter.
Später wirst du ihn tauschen gegen ein Kinderbett.
Aber das weißt du jetzt noch nicht.

Tränen und Schweigen. So viel Schmerz und so viel Mut.
 Was hast du in deine Seele gepackt, damals, Valentina?
Und was du, Hatice?
Eure seidengrünen, eure samtroten Seelen. 
Den Schatten von Birken, Geschmack von Oliven. Die heimlich gesprochene Sprache, die alten Worte.
Und den Blick der Soldaten an jenem einen Morgen. Der Geruch nach Angst und nach Blut, als du wusstest: du musst gehen.

Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes.


Arturs Großvater
Arturs Großvater damals.
Ein kleines Haus. Mit kleinen Zimmern. Mit niedriger Decke.
Dahinter ein Garten.
2 Bäume.
4 Sträucher.
1 Hund

Ein kleiner Junge. Und ein alter Mann.
Ein Knie in einer grauen Hose.
Und zwei Kinderarme klammern sich daran.

Das war eine Stimme: Artur, wir müssen gehen.
Und ein lautes Weinen und ein: Nein. Nein. Nein.
Das war die alte Hand auf dem blonden Jungenskopf.
Und ein Streicheln und ein: Wir werden uns doch wieder sehen.

Und dann war es eine andere Hand und ein klappriges Auto, ein Koffer, ein Zug, eine Grenze, Pässe, ein Arzt.

Später Straßen ohne Müll.
Häuser ohne Hund.
Eine Wohnung, eine Schrankwand, eine Schule, eine Kirche, eine Gang: Bushaltestelle.

Und ein Grab – 5000 Kilometer ostwärts.
Ein Foto davon auf dem Handy: Mein heiliger Ort.

Lass die Toten ihre Toten begraben?


Aber der Menschensohn hat nichts
Das war ein Vogelruf am Morgen und der Geruch von Holz.
Und später war es der Wind vom Meer her und eine Stimme aus den Wolken:
Dies ist mein lieber Sohn. Auf ihn sollt ihr hören.

Und sie ließen die Netze fallen, die Spindeln, Spaten, Teller, Bücher. Und folgten ihm nach.
Wollten sein wie er.
Leben von der Hand in den Mund und von jedem Wort, das aus dem Munde Gottes kam.

Sein Mantel hatte keine Tasche.
Licht war um ihn und Kraft. Und Einsamkeit. Ja. Die auch.

Die Vögel hatten Nester. Und die Füchse hatten Gruben.
Aber er hatte nichts.


Mein Herz will dir folgen, Herr
Ich will dir folgen, Herr. Hab zwar Tisch und Bett, Konto, Kreditkarte, Krankenversicherung, Kühlschrank.
Hab Lohn und Brot und Himmel vorm Fenster und WLAN fast for free.
Und hab doch auch oft nichts, wohin ich mein Haupt legen könnte. Und mein Herz. Und meine Seele.

Ich will dir folgen, Herr.
Und ich will nie vergessen: du heißt auch Artur, heißt Valentina, heißt Hatice.

Und dein Reich beginnt unter Birken, Apfelbäumen.
An Grenzen, Übergängen, Wegkreuzungen.
Es ist eine Handvoll Oliven. Ist Schafgarbe im Wasserglas.
Fremde Sprache. Und ist Neuanfang.

Ich will dir folgen, Herr 
ch geh fort von Streit und Tod
Weg von Neid und engen Gedanken
Und dann laufen wir
Laufen von hier bis ans Meer
Du, ich und die anderen
Aus Zeiten, aus Welten

Wir sitzen am Ufer dann
Die Füße im Sand
Den Salzwind im Haar
Unsere Gesichter leuchten
Unsere Träume werden wahr
Der Horizont verschwimmt
Wir säen nicht. Wir ernten nicht. Wir sammeln nicht.
Sitzen nur da.
Und unser himmlischer Vater ernährt uns doch. 
Amen.

"Das Menschengeschlecht ist durch Migration zu dem geworden, was es heute ist."

Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler in der NZZ zur Geschichte menschlicher Wanderungsbewegungen:

http://www.nzz.ch/feuilleton/ein-blick-in-die-geschichte-menschlicher-wanderungsbewegungen-1.18607660

Michael Waldmann: Jonas Flucht vor Gott. Predigt zum Buch Jona

Mein Predigttext ist heute das Buch Jona. Da es vier Kapitel umfasst, will ich Ihnen eine Kurzfassung erzählen:
Mitten im schönen Land Israel sitzt Jona. Eines Tages hört er eine Stimme. Gott sagt zu ihm: „Jona steh auf. Geh in die große Stadt Ninive. Die Menschen dort sind so böse, dass ich nicht länger zusehen kann. Sage zu ihnen: Gott wird euch bestrafen.“ Jona geht – aber nicht nach Ninive. Er läuft weg. Er geht in die andere Richtung. Er geht ans Meer. Er bezahlt Fahrgeld. Er steigt in ein Schiff. Das Schiff fährt weit weg. Immer weiter weg von Ninive. Da schickt Gott einen schweren Sturm. Die Wellen sind hoch. Das Schiff ist in Gefahr. Die Matrosen haben schreckliche Angst. Sie schreien: „Hilf uns Gott! Lass uns nicht ertrinken.“ Jona hat nichts gemerkt. Er liegt unten und schläft. Einer der Matrosen geht hinunter und ruft: „Wach auf Jona. Hilf uns beten, damit Gott uns erhört.“ Jona sagt: „Gott wird mich nicht hören. Ich bin an allem schuld. Ich habe ihm nicht gehorcht. Darum hat er den Sturm geschickt.“ Jona sagt zu den Matrosen. „Werft mich ins Meer. Dann hört der Sturm auf.“ Die Matrosen werfen Jona ins Wasser. Ein großer Fisch verschluckt ihn. Sofort hört der Sturm auf. Der Fisch ist tief unten im Meer. Jona ist im Bauch des Fisches, drei Tage und drei Nächte lang. Jona ruft zu Gott: „Hilf mir. Hol mich heraus.“ Gott hört Jonas Gebet. Er hilft ihm. Der Fisch spuckt Jona ans Ufer. Noch einmal sagt Gott zu Jona: „Geh nach Ninive. Sage den Leuten dort: Gott wird euch bestrafen.“ Jona geht in die große Stadt. Er ruft den Menschen zu: „Gott wird eure Stadt zerstören. Ihr tut so viel Böses. Ihr unterdrückt die Armen. Ihr raubt und mordet. Ihr müsst alle sterben. Nur noch vierzig Tage.“ Die Leute von Ninive erschrecken. Sie ziehen Trauerkleider an. Sie sagen: „Wir wollen uns bessern.“ Sie beten zu Gott:  „Vergib uns. Es tut uns Leid.“ Gott hört die Menschen von Ninive. Er sagt: “Ich schenke ihnen das Leben. Ich will die Stadt nicht zerstören.“ Jona ist sauer und sagt: „Ach Herr, genau das habe ich vermutet, als ich noch zu Hause war. Darum wollte ich ja auch nach Spanien fliehen. Ich wusste es doch: Du bist voll Liebe und Erbarmen, du hast Geduld, deine Güte kennt  keine Grenzen. Das Unheil, das du androhst, tut dir hinterher Leid.“
So sitzt Jona  vor der Stadt. Eine Staude gibt ihm Schatten. Jona ist zornig. Er sagt: „Gott muss die Stadt zerstören! Die Menschen waren böse. Gott muss sie bestrafen.“ Gott fragt Jona: „Warum bist du zornig? Hast du Grund dazu? Warum freust du dich nicht?“ Gott lässt die Staude verdorren. Jona sitzt in der heißen Sonne. Jona ist zornig. Er hat keinen Schatten mehr. Gott fragt Jona: „Warum bist du zornig? Hast du Grund dazu?“ Jona sagt: „Mit Recht bin ich zornig. Die Blätter waren so schön.“ Gott sagt: „Dir tun die Blätter Leid. Mir tun die Menschen Leid. Sie sollen nicht sterben. Alle Menschen sind meine Kinder.“

Liebe Gemeinde!
Dieses kleine Buch unterscheidet sich von allen anderen Prophetenbüchern. Es ist ausschließlich eine Erzählung: die Geschichte von einem ungehorsamen Propheten, der sich zuerst seiner Sendung entziehen will und sich dann über den unerwarteten Erfolg seiner Predigt beklagt. Die Geschichte des ungehorsamen Propheten ist berühmt geworden durch den großen Fisch, in dessen Bauch er drei Tage und drei Nächte verbringen muss. Es fällt uns schwer vorzustellen, wie Jona lebend wieder aus dem Fischmagen herausgekommen ist. Aber es gibt noch mehr Auffälligkeiten in dieser Geschichte. Da ist die Riesenstadt Ninive, die so groß geschildert wird, dass man zu Fuß drei Tage braucht, um sie zu durchqueren. Da ist die erstaunliche Bußfertigkeit ihrer so sprichwörtlich lasterhaften Bewohner, die ein Gegenstück hat in der überraschenden Frömmigkeit der Matrosen – die beide den störrischen Gottesboten beschämen, der sich bis zuletzt gegen Gottes Absichten sperrt. Was immer in Ninive geschehen ist – der Erzähler macht ein Gleichnis daraus, mit dem er etwas Bestimmtes erzählen will. Gerade die kleinen oder großen Übertreibungen sollen uns – sozusagen mit der Nase – darauf stoßen. Es will keine historische Erzählung sein. Das Ganze ist mit einem unverhüllten Spott erzählt, wie er der Geschichtsschreibung ganz fremd ist. Das Buch will gefallen und belehren. Es ist eine kunstvolle Lehrerzählung, die in ihrem Heilsverständnis einen Höhepunkt im Alten Testament darstellt. Das Büchlein bricht mit einer engherzigen Auslegung der Weissagungen und sagt, dass selbst die nachdrücklichen Drohungen Ausdruck des barmherzigen Willens Gottes sind, der nur auf ein Zeichen der Reue wartet, um Vergebung zu gewähren. Es bricht mit dem Konzept, dass das Heil auf einen kleinen Teil der Welt beschränkt sei und predigt einen weiten Raum der Gnade Gottes, der alle Welt umfasst. In dieser Geschichte ist die ganze Welt sympathisch: die heidnischen Seeleute in Seenot, der König, die Bewohner und selbst die Tiere Ninives, alle Welt. Gott ist barmherzig mit allen, er ist sogar nachsichtig mit seinem rebellischen Propheten. Was kann aus dieser vergnüglichen Geschichte gelernt werden? Wir bemerken es, wenn wir auf die Hauptfigur blicken: Jona. Müsste er sich nicht freuen über den unerwarteten Erfolg seiner Bußpredigt? Wenn man seine Geschichte aufmerksam liest, erfährt man, dass schon seine Flucht am Anfang nicht aus Angst vor der bösen Stadt erfolgt, nicht aus der Sorge vor eigener Erfolglosigkeit oder der Größe der Aufgabe. Nein. Er bricht nicht nach Ninive auf und flieht vor seinem Auftrag und vor Gott, weil er den Bewohnern die Umkehr nicht gönnt: „Ach Herr, genau das habe ich vermutet, als ich noch zu Hause war. Darum wollte ich ja auch nach Spanien fliehen. Ich wusste es doch: Du bist voll Liebe und Erbarmen, du hast Geduld, deine Güte kennt  keine Grenzen. Das Unheil, das du androhst, tut dir hinterher Leid.“ Ist das nicht widersinnig: Gott seine Güte zum Vorwurf zu machen? Aber wer ist Jona? An wen richtet sich die humorvoll vorgetragene Moral von der Geschicht‘? Zu allen Zeiten waren gerade die frommen, Gott treu ergebenen Menschen in der Gefahr aus ihrer Frömmigkeit einen Anspruch abzuleiten und sich unduldsam abzusondern von allen, die auf anderen Wegen zu Gott finden. So hat sich Israel gegen das samaritanische Nachbarvolk abgeschlossen, obwohl es dasselbe Gesetz beachtet und denselben Gott verehrt hat. Wahrscheinlich ist die Geschichte von Jona gerade damals geschrieben worden. So haben es später die jüdischen Frommen nicht verziehen, dass Jesus die Zöllner und Sünder in die Gemeinschaft der Gotteskinder aufnahm. Ist der ältere Bruder des verlorenen Sohnes nicht ein zweiter Jona, wenn er sich nicht mitfreuen will? Sind wir vielleicht selber manchmal in der Gefahr, engherziger zu sein als Gott in seiner unendlichen Güte, von der wir doch alle leben? Ich fürchte schon. Die Frommen und Gott treu ergebenen Menschen sind heute nicht so viel anders als damals. Christliche Gemeinde hat oft den Anspruch, dass Menschen auf die ihre Art und Weise zu Gott finden sollen. Wo habe ich es schon einmal erlebt, dass die Gemeinde am heiligen Abend den Gottesdienstbesuchern, die an diesem Abend kommen die bevorzugten guten Plätze gaben? Wer ist selbst frei von dem Gedanken: wenn ich schon soviel für Gott und seine Gemeinde aufwende, muss er es mir doch vergelten. Und wenn nicht? Wenn mich Unglück und Unbill des Lebens trifft. Was dann?
An dieser Jonageschichte gefällt mir, dass sie mir für dieses Phänomen einen neuen Blick schenkt. Wenn ich so mit den Menschen umgehe und mich zurückziehe und nicht der Gnade Gottes öffne, dann fliehe ich nicht vor den Mitmenschen, nein ich fliehe vor Gott selbst. Meine Abwendung von denen, die aus meiner Sicht einen falschen oder gar keinen Weg zum Glauben finden, ist nicht allein eine Abwendung von Menschen, sondern Flucht vor Gott. Dass ich ihm natürlich nicht entfliehen kann, weiß ich und sagt mir die Jonageschichte noch einmal deutlich. Aber versuchen tue ich es ja doch immer wieder. Weglaufen vor Gottes Güte, indem ich den Menschen entfliehe, fliehe ich vor Gott und seiner Gnade, die ja auch mich meint. Diese Flucht ist wahrscheinlich nicht weniger dramatisch wie die Flucht vor Hunger und Verfolgung, die heute viele Menschen unfreiwillig auf sich nehmen müssen. Sie suchen nach einem besseren Leben, das frei ist von politischer Verfolgung oder Hunger und Not. Sie suchen Freiheit und die Möglichkeit sich zu entfalten. Die Zahl dieser Menschen ist erschreckend hoch auf der Welt, aber nichts Einmaliges in der Geschichte der Menschen. Menschenbewegungen gab es schon immer in der Geschichte. Schwaben sind in den Osten gezogen, weil es hier kein Auskommen gab. Zurück kamen sie wieder nach dem zweiten Weltkrieg auf der Flucht vertrieben als Deutsche in einem fremden Land. Sie wurden hier aufgenommen und integriert – eine der großen Friedensleistungen unserer deutschen Geschichte. Denn so blieb Deutschland kein politischer Unruheherd, sondern konnte sich zum Garanten des Friedens und Wohlstands entwickeln. Danke an die Generation, die das geleistet hat. Jetzt leisten wir wieder so ein Stück Friedensgeschichte, wenn wir die Flüchtlinge willkommen heißen, ihnen essen, Trinken und Obdach geben, das Allernötigste zuerst sie freundlich aufnehmen, ihnen den Weg zum Arzt zeigen und die deutsche Sprache beibringen. Unser Umgang mit ihnen soll wieder zum Frieden in unserer Gesellschaft beitragen. Daran erinnern uns die Wächter, die derzeit an vielen Stellen unserer Stadt als Holzfiguren des Künstlers Robert König ausgestellt sind. Eine Figur wird in Nürtingen bleiben und uns erinnern an Flucht und Vertreibung. Erinnern an Flucht will uns auch das Buch Jona. An unsere Flucht vor Mitmenschen, die letzten Endes Flucht vor Gott ist, vor seiner Gnade. Wenn wir uns heute mit den Muslimen und der Religion des Islam so schwer tun, ist es dann solche Flucht vor Gott. Religion soll Menschen verbinden und nicht trennen. Jede Religion und jeder Gläubige, der das missachtet, entfernt sich von Gott, egal welcher Religion er angehört. Wir können deutlich sagen, was wir glauben, um dann neugierig zu fragen. Sie glauben das anders. Das interessiert mich. So kommt man miteinander ins Gespräch über die großen Themen des Lebens und ist miteinander verbunden, nicht weil alle dasselbe glauben, aber weil alle mit Blick über die Wirklichkeit hinaus den Grund des Lebens erfassen wollen. Und wir werden feststellen wie faszinierend und bereichernd das sein kann. Der Güte Gottes können wir überlassen, was er daraus macht.
Wenn wir heute erleben, dass uns die vielen Immobilien zur Last werden, dann frage ich mich manchmal, was denn Gott uns damit sagen möchte. Wir haben viele Kirchen und Gemeindehäuser gebaut und unser Gemeindeleben ganz in Gruppen und Kreisen der Gemeindehäuser eingerichtet. So haben wir auf den Gemeindeaufbau gesetzt. Erreicht haben wir nicht das, was wir wollten. Viele sagen wir hatten gar keine Zeit neben dem Gemeindebau aus Steinen auch auf den Gemeindebau mit Menschen zu achten. Manche haben den Eindruck, dass wir uns als Kirche hinter den Mauern der Gebäude zu einer Vereinskirche umgebildet haben, die nicht mehr dem Befehl Jesu gehorcht: Geht hinaus in alle Welt, sondern umgekehrt die Menschen aufgefordert hat in die Gemeindehäuser zu kommen – kuschelig warm und hilfreich, aber nicht Salz der Erde und Licht der Welt. Heute wird in der Milieudiskussion deutlich wie gefährdet eine Vereinskirche ist, die signalisiert nur Gleiche sammeln zu wollen. Wir werden weniger. Die Bedeutung der Kirche schwindet. Vielleicht will Gott uns drei Tage lang in diesem Bauch des Fisches halten, um uns dann auszuspeien mit dem Auftrag: Legt euch wieder mehr für die Welt ins Zeug und für alle Menschen egal welcher Religion, Auffassung  und welchen Standes sie sind. Es geht nicht darum sich selbst etwas Gutes zu tun, sondern glaubwürdig von der Gnade Gottes zu erzählen. Sie ist so groß wie wir es uns alle nicht vorstellen können.
So wird die Geschichte von Jona ganz aktuell in der Frage, wo wir heute hinter der Gnade Gottes zurück fallen und ob wir nicht selbst viel zu oft auf der Flucht vor Gott sind. Gott ist barmherzig. Selbst seine nachdrücklichsten Drohungen sind nichts weiter als Ausdruck seiner Barmherzigkeit mit uns. Und das Beste: Seine Barmherzigkeit und Gnade gilt auch denen, die immer wider vor ihm fliehen, weil sie das nicht aushalten. Also Ihnen und mir. Gott sei Dank.
Amen.

Donnerstag, 27. August 2015

Nürtinger Gedenkinitiative

Die Nürtinger Gedenkinitiative ist eine Gruppe von Menschen, die die Geschichte der Opfer des Nationalsozialismus in Nürtingen aufarbeitet und bekannt macht.

Den sehr informative Internetauftritt der Gedenkinitiative gibt hier:

www.gedenken-nt.de

Jakob Fuchs: "Wie ein Sperling verflattert aus seinem Nest" - Predigt zu Sprüche 27,8

Liebe Gemeinde,
vorgestern piepste es. Direkt vor mir und von ganz unten.

Ich war gerade aus der Haustür gekommen und um die Ecke gebogen und meine Fußsspitze hätte das kugelrunde Federbüschel, das sich da auf dem Boden befand, aus Unachtsamkeit beinahe in hohem Bogen in die Luft befördert, würde da nicht gerade der Versuch unternommen, mit aller Kraft zu zwitschern, das ganze aber nicht so richtig gelingen. Zwei stecknadelkopfgroße Augen blickten an mir hoch, bebender, bräunlich weißer Flaum das ganze Wesen. Und dann hüpfte das Federbündel, aufgeregt mit dem Flaum wippend, schwankend und eben piepsend in das nahe Gebüsch, von wo aus es mich weiter argwöhnisch, hoffnungsvoll, vielleicht auch ein bisschen neugierig beäugte.

Und ich? Ach ich hatte es eilig. Die Straßenbahn (ich wohne in Stuttgart), also die Straßenbahn wartete nicht und überhaupt hatte ich noch viel zu tun an dem Tag. Gerade jetzt kurz vor dem Urlaub noch schnell alle Dinge mehr oder weniger ordentlich zu Ende bringen, den Schreibtisch aufräumen – um dann endlich unbeschwert und froh (jetzt übermorgen, am Dienstag) in den Urlaub fliegen zu können. Unbeschwert wegfliegen um dann an einem anderen Ort ein paar Tage fern aller Probleme verbringen zu können.
Doch dieser kleine Vogel. Der ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Was war mit ihm geschehen? Gibt es um diese Jahreszeit überhaupt noch so kleine Vögel? Ist er aus dem Nest gefallen? Fliegen konnte der sicher noch nicht. Er war verschreckt, hilflos. Und ich bin vorbeigeeilt in meiner täglichen Hast. Hatte doch Wichtigeres im Kopf! Aber ich weiß auch, wie viele Katzen es hier gibt… Ach was, warum machte ich mir überhaupt Gedanken über so eine… Lappalie?! War es nicht vielmehr ich, der hier einen Vogel hatte? Diese Geschichte hatte ich dann doch fast vergessen, bis ich mich wieder an den Predigttext für den heutigen Sonntag machte. Er ist ganz kurz: "Wie ein Sperling verflattert aus seinem Nest, so ein Mensch von seiner Heimat." (Spr 27,8)

Diese erst einmal ganz unscheinbaren Zeilen aus der letzten der großen Sammlung des biblischen Sprüchebuches haben es in sich: Denn das hebräische Original kann ganz unterschiedlich übersetzt werden – und die Art wie es im Sprüchebuch vorkommt kann tatsächlich etwas über den aktuellen Umgang mit den Zu-uns-Flüchtenden, den Geflüchteten unter uns, aussagen.

Doch der Reihe nach: was hat dieser Spruch nun mit der Begegnung vor meiner Haustür zu tun? Nun, zunächst kommt der Vogel im Predigttext dem aus der morgendlichen Begegnung ganz nahe. Im Hebräischen steht da "zippor", gemeint ist wohl ein kleiner, schutzloser Vogel, der eben "zip, zip" macht und der, auch wenn er ausgewachsen ist, immer bedroht bleibt. Wir haben gerade von Lärche, Taube, Nachtigall, Glucke und Storch gesungen (EG 503). Alles positiv besetzte Vögel. In der Bibel kommt häufig der Adler vor, als Bild des machtvollen, schnellen und für seine Jungen fürsoglichen Vogels.
Der "zippor" dagegen, das ist der kleine aus dem Nest gefallene Sperling. Jederzeit kann es passieren: das aufgeschreckte Wegflattern – und das Weggehen aus der Heimat. Im Alten Testament werden ganze Völker, deren Heimat zerstört wird, immer wieder mit solchen kleinen Vögeln in Verbindung gebracht. Am Ende wird sogar dem damaligen großen und mächtigen Reich von Assur die Macht und der Reichtum wie ein Nest genommen, sodass am Ende, so heißt es im Buch Jesaja, "keiner mehr da ist, der mit den Flügeln schlug, und keiner, der den Schnabel aufriss und piepste." (Jes 10,14).

"Wie ein Sperling verflattert aus seinem Nest, so ein Mensch von seiner Heimat."
Dass Menschen ihre Orte verlassen, verlassen müssen, das ist im Alten Testament etwas ganz Alltägliches: "Rühme dich nicht des morgigen Tages, denn du weißt nicht, was ein Tag gebiert." (Spr 27,1) steht dann auch programmatisch am Anfang der Sprüchesammlung, in der unser Vers vorkommt. Aber können wir das nicht gerade auch in unserer Zeit erleben: ob nun jeden Abend in den Nachrichten, angesichts des schnell hergerichteten Containerdorfs für Flüchtlinge in der Kanalstraße, oder indem wir an unsere eigenen oder an unsere Familiengeschichten denken. Die ganze Braike wurde einmal vor allem für aus der Heimat Vertriebene gebaut. Und während wir hier Gottesdienst feiern warten Menschen am Ufer des Mittelmeeres auf die (scheinbar?) rettende Überfahrt.

2.
Vor kurzem traf ich Daria, eine Frau aus dem Jemen, die wie ich an der Universtität arbeitet. Sie ist vor ein paar Jahren nach Deutschland gekommen. Eigentlich weil sie Ärztin werden wollte und dann so schnell wie möglich zurück. Jetzt ist sie immer noch da und kann nicht mehr zu ihrer Familie. Denn sie ist Christin, wie ihre Verwandten im Jemen auch, die im Bürgerkrieg, der dort aktuell tobt nur noch unter Lebensgefahr das Haus verlassen können. Ohnmächtig kann sie nur noch von ferne das Leid ihrer Freunde und Geschwister miterleben. Sie fragt sich, mit welchem Recht sie hier gelandet ist – und sonst keiner der von ihr geliebten Menschen. Sie sagt sie könnte hier Karriere machen, doch sie ist wie gelähmt. Sie fühlt sich schuldig, sie weiß nicht wie.

"Wie ein Sperling verflattert aus seinem Nest, so ein Mensch von seiner Heimat."
Man kann auch sinngemäß übersetzen: "Wie ein Sperling mutwillig aus seinem Nest wegfliegt, so auch der Mensch, der seinen ihm anvertrauten Ort verlässt." Der Vers stellt damit angesichts von Flucht und Vertreibung eine Schuldfrage, die in vielen Fällen ganz absurd erscheint und die doch immer mit dabei ist: Konnte ich wirklich nichts anderes tun als zu fliehen? Menschen zurücklassen, die eigentlich auf meine Fürsorge angewiesen sind, fragt sich Daria.

Wer flieht „zu Recht“ und wer „zu Unrecht“?

Diese Frage stellen sich nicht nur die Flüchtenden selbst. Sie geht seit vielen Wochen durch alle unsere Medien, sie ist die Grundlage, auf in diesem Jahr über 200.000 Asylanträge entschieden werden. Es bleibt ein mulmiges Gefühl zurück am Ende. Für alle Beteiligten: Habe ich dem Schutzbedürftigen am Ende doch keinen Schutz gewährt? Bin ich geflohen, auch wenn ich es hätte vermeiden können, ja vermeiden sollen? Wen habe ich, wissentlich oder unwissentlich, verjagt und hinausgetrieben aus seinem Heimatort?

3.
Da ist Georg, der, wie er selbst sagt, „irgendwann aus diesem ganzen dummen Land abgehauen“ ist. Mal arbeitete er in Tokio an einem Businessprojekt, mal trampte er durch die USA. Nur eines wollte er nie mehr: zurück in die Eifel, wo seine Mutter wohnt, die „wohl nicht mehr ganz richtig im Kopf“ ist, wo seine Schwester wie alle anderen auch „irgendwen von nebenan“ geheiratet hat, und wo er obendrein auch noch seine Schulden zurückzahlen müsste, würde er sich dort einmal wieder sehen lassen. Das hat er jetzt seit fünfzehn Jahren nicht getan. „Was soll’s: Du kannst Dich jeden Tag neu erfinden!“ „You Only Live Once“ - „Man lebt nur einmal“. Ja, es geht seiner Mutter schlecht, aber „ich gehöre zur ganzen Welt, Mann, nicht zu irgendwem“. Später erfahre ich noch eine andere Seite der Geschichte: Seine Familie hat sich mit ihm überworfen, als er noch in der Schule war. Er wollte unbedingt raus aus dem Dorf, sie versuchten ihn mit allen Mitteln zu halten. Bis er dann ganz weg war.

Wer ist im Recht und wer im Unrecht? Ist das eigentlich die erste Frage, die sich angesichts von fliehenden Menschen stellt? Ersteinmal ist da nur nackte Panik. Der Vogel der plötzlich aufflattert, weil sich jemand an seinem Nest zu schaffen macht wägt nicht zunächst sachlich das Für und Wider ab. Er will in diesem Moment auch nicht an einen bestimmten Ort, sondern, wie Georg es formulierte, „einfach nur raus“.

4.
Die Gewissensbisse, die kommen erst danach. Der Migrationssoziologe Paul Collier spricht davon, dass eigentlich jede Flucht, niemals nur den, der flieht, sondern eigentlich drei Gruppen von Menchen mit einschließt: diejenigen, die zurückbleiben, diejenigen, die fliehen, diejenigen, bei denen Schutz gesucht wird. Sie alle werden sich am Ende einer Flucht fragen, ob sie eigentlich das “Richtige” getan haben.
Natürlich kann ich die Augen verschließen - vor den Gründen, weshalb so viele weggehen. Ich kann die Augen verschließen - vor dem neuen Land, in das ich komme. Ich kann die Augen verschließen - vor denjenigen, die hier ankommen und um Aufnahme bitten. Aus Angst hinzusehen richte ich dann Gitter auf zwischen Menschen. Ich erlebe den anderen als Teil einer Menschengruppe. Ich trenne zwischen denen, die zu mir gehören, und denjenigen, mit welchen nach anderen Regeln zu verfahren ist. Doch das mulmige Gefühl wird auch dann bleiben: was ist das, das „Richtige“ tun?

5.
"Wie ein Sperling verflattert aus seinem Nest, so ein Mensch von seiner Heimat." 
 Ich lese gerne im Buch der Sprüche in der Bibel, weil es, auch wenn es aus dem achten Jahrhundert vor Christus stammt, sehr konkret wird: Die Tatsache dass Menschen immer wieder fliehen, fliehen müssen wird hier nicht abgestritten; ebensowenig die schier unauflösbare Schuldfrage, die sich dadurch stellt. Denn: grundlos verlässt kein Vogel sein Nest. Aber der Text bleibt hier nicht stehen. Die Spruchsammlung umrahmt unseren Vers mit Anweisungen zu wahrhaftiger, gegenseitiger Zuwendung, zu guter Nachbarschaft, zur Freundschaft. Die steht vor allem gegen die immer gegebene Gefahr des Heimatloswerdens!

Zwar ist das Sprüchebuch auch so realistisch, eine solide wirtschaftliche Grundlage und vor allem ein gerechtes Staatswesen nicht zu verachten. Selbst vor verkehrten Menschen wird gewarnt: Denjenigen, die Menschen gegeinander aufhetzen und dabei jedes gute Miteiander untergraben. Auch die finden wir in unseren Tagen. Entscheidend ist aber dann doch etwas anderes und viel einfacheres: Dass Menschen sich einander zuwenden, durch Freundschaft, den Ort, an dem sie sind, erst zur Heimat machen.

Denn wirklich zur Bedrohung wird die Heimatlosigkeit erst dann, wenn kein Freund da ist, der hilft die Heimat zu bewahren – oder der an einem neuen Ort hilft, eine neue zu begründen. 

Und für das Sprüchebuch steht ohne Zweifel, dass Gott an einer jeden solchen Freundschaft teilhat. Seine Zuwendung ermöglicht es, dass Menschen füreinander handeln, miteinander das Reich Gottes suchen können, befreit von der Angst, heimatlos zu werden.

Wir sind Bürger des Reiches Gottes und haben unsere Heimat immer schon bei ihm. Das befreit: Vom ängstlichen Kreisen um das eigene Nest, vom argwöhnischen Beobachten der Flüge der anderen.

Seht die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Sind wir denn nicht viel mehr als sie?
(vgl. Lesung Mt 6,25-34)

Amen.

Dienstag, 25. August 2015

Das Wunder von Riace

Ein kleines italienisches Dorf,  in dem viele Häuser leer standen, nimmt gezielt Flüchtlinge auf - hier gibt es einen kleinen Film dazu:

https://www.facebook.com/video.php?v=1625710857700036&pnref=story

Montag, 24. August 2015

Montag, 17. August 2015

Bärbel Brückner-Walter: "Wir haben hier keine bleibende Stadt" - Predigt zu Hebräer 13,14


Liebe Gemeinde,
Odyssey - Abschied und Verlust, Not und Leid durch Vertreibung. Fremdsein hier im Deutschland der Naziherrschaft, Internierung und Zwangsarbeit, Angst und Schrecken in den Jahren nach dem Krieg –  Irrwege auf der Suche nach Leben. Mit seinen Figuren zeichnet der Künstler Robert Koenig einen Weg, er  beginnt in der polnischen Heimat seiner Familie und führt schließlich auch nach Deutschland. Immer mehr Figuren kommen dazu: von Polen bis hierher nach Nürtingen sind es schließlich 44 Wächterinnen und Wächter der Erinnerung.
 „Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir“  - heißt es im Hebräer-Brief.
Da stehen sie – wie Fremde. Manche  starren mich so seltsam an; fordern mich heraus – und ich versuche vorsichtig, mich ihnen zu nähern.  Wenn ich sie so anschaue, komme ich ins Nachdenken, über meinen eigenen Lebensweg, über den anderer Menschen.  Und kann hinter jeder der 44 Odyssey- Figuren  Schicksale erahnen: Schicksale von Flucht und Vertreibung, von Heimatlosigkeit und der Suche nach einem Ort, wo es sich leben lässt. Schicksale aus der Zeit des Nationalsozialismus und der Jahre danach, bis in unsere Gegenwart hinein – Schicksale von Flucht, von Migration, von Umherirren. Manche von uns haben das ja am eigenen Leib erfahren,  damals nach dem Krieg, oder auch später, als sog. Gastarbeiter/innen. Oder als Spätaussiedler, und heute als Flüchtlinge  „Wir haben hier keine bleibende Stadt…“ es ist die bittere Erfahrung von Menschen, die alles hinter sich gelassen haben – damals wie heute. Es ist die Geschichte meiner Eltern. - Und manche Begegnungen  in meiner  Gemeinde haben sich tief in mein Gedächtnis eingeprägt: Mit Menschen aus Russland, aus der Ukraine, aus Kasachstan; sie haben mir erzählt, wie sie nach Deutschland gekommen sind und  unter großen Mühen eine neue Existenz aufgebaut haben. Welch lange Wege haben sie zurückgelegt, mit wie viel Umwegen, bis sie endlich angekommen sind.
Und dann die bewegende Schilderung jenes afghanischen Flüchtlings in einem Gottesdienst in der Lutherkirche - ganz offen hat er von seiner Flucht gesprochen–und so, dass es allen unter die Haut ging.
„Wir haben hier keine bleibende Stadt…“ das könnten sie auch sagen, die „Wächterinnen und Wächter der Erinnerung“ – der Erinnerung an die, die nicht mehr da sind. Und an die, die heute fliehen:  
Weil Terror, Krieg und Not das Leben so vieler Menschen zur Hölle machen! Wo Menschen ihre Meinung nicht mehr frei äußern dürfen,  ihre Religion nicht mehr offen leben können, nicht wissen, wie sie über die Runden kommen sollen und um ihr Leben bangen. Flucht als letzter Ausweg - das trifft heute weltweit so viele Menschen wie noch nie.  
 „Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“  Flucht und Vertreibung hautnah – den Odyssey-Figuren kann ich mich schwer entziehen. Hinter den ernsten Gesichtern spüre ich bohrende Fragen: Wie begegnest du den Fremden in deiner Stadt? Was hast du zu sagen, wenn Flüchtlingsunterkünfte in deinem Land in Flammen aufgehen?
Die bedrängenden Fragen unserer Zeit lassen mir keine Ruhe.  Die Krisen dieser Welt haben mich, haben  uns alle hier längst eingeholt: Odyssen - und die Suche nach dem, was wirklich trägt, in einer Zeit der Verunsicherung.
„Wir haben hier keine bleibende  Stadt, sondern die zukünftige suchen wir“ – das heißt für mich auch:
Ich will mich nicht zufrieden geben mit dem, was ich von Wirtschaftsexperten erfahre – zum Beispiel durch solche Meldungen wie diese über die riesigen Kapitalflüsse rund um den Erdball: ganze 2 Euro 50 von Hundert dienen der realen Wirtschaft, mit 97, 5% des Weltumsatzes aber werden reine Spekulationsgeschäfte abgewickelt!
„Wir haben hier keine bleibende Stadt…“  nicht hier, auf dieser Welt, so, wie sie ist. Wir alle nicht! „…die zukünftige suchen wir“ , jene ernsten, fragenden Gesichter lassen mich aufbrechen, ich will mich auf den Weg machen und ihre kritischen Fragen nicht überhören. Auch wenn sie schmerzhaft sind, weil sie mich so schonungslos genau da treffen, wo ich mich ganz gut eingerichtet habe.  Wo ich mich bequem zurücklehne  und die Welt draußen leicht aus dem Blick verliere.
 „Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“
Es ist die Suche nach dem, was Nachfolge wirklich heißt: „So lasst uns nun zu ihm - zu Jesus - hinausgehen aus dem Lager,“ heißt es unmittelbar davor im Hebr-Brief. Und meint einen radikalen  Ortswechsel! Er  weist nach „draußen vor dem Tor“, dorthin, wo Jesus gelitten hat. Hinausgehen aus dem Lager, das ist: Vertrautes, Gewohntes, Liebgewonnenes hinter mir lassen. Alte Denkmuster, Vorurteile aufgeben, aufbrechen  und den Weg ins Neuland wagen…Bewegt von dem Wanderprediger, der nichts hat, wo er sein Haupt hinlegen kann.
Damals ist sie auch hinausgegangen, Heiligabend 1943,  die Mutter des Künstlers Robert Koenig,  aus dem Lager der Zwangsarbeiterinnen bei Speyer ist sie ausgebrochen. Und hat zusammen mit anderen Häftlingen den gefährlichen Weg zum Dom von Speyer gewagt. Die Christmette haben sie besucht. Gerade als „Stille Nacht“ gesungen wird, öffnen sie die Türen des Doms. Sie werden angestarrt, der Mesner will sie rausschmeißen . Aber die mutigen Frauen bleiben, und der Mesner macht kehrt, weil er kein Aufsehen erregen will. Zwei Welten prallen aufeinander: Hier die weihnachtliche Idylle, dort die Zwangsarbeiterinnen – „Wir haben hier keine bleibende Stadt…“ .
 „Hinausgehen aus dem Lager und seine Schmach mittragen": Christus ist da, wo Menschen verfolgt und ausgegrenzt werden, wo Menschen leiden und sterben. Draußen vor dem Tor, außerhalb aller politischen,  gesellschaftlichen  und religiösen Lager.
Draußen vor dem Tor, da stehen sie, die mahnenden Figuren, die Wächterinnen der Erinnerung, und  weisen mir den Weg vor das Tor unserer Welt, vor das Tor unserer gut etablierten Gesellschaft, vor das Tor des Wohlstands und des Konsums, vor das Tor der Festung Europa, vor das Tor manch heiler Familienidylle, vor das Tor starrer religiöser Überzeugungen, vor das Tor so mancher Zugehörigkeit, zu Menschen, die nicht dazugehören.
Und plötzlich spüre ich deutlich, wie diese meine Odyssee,  mein Suchen mit den Odysseen jener anderen „draußen vor dem Tor“ zu tun hat.  „Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir“ – Die Odyssey-Figuren zeichnen einen Weg….und dieser Weg  setzt in Bewegung, führt hinaus vor so viele Tore… 
…auf der Suche nach der zukunftsfähigen Stadt für alle Menschen. Bisher habe ich vielleicht nur einen Ausschnitt von Leben kennengelernt, geschützt und wohlbehütet; vor jenen vielen Toren aber begegnet mir die ganze Wirklichkeit, es begegnet uns Christus selbst. „Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“  
Im Buch der Offenbarung  ist das neue Jerusalem das Bild für die zukünftige Stadt. Ein Ort, wo die Menschen in Frieden und Gerechtigkeit beieinander leben. „Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen!" „Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein, und er wird ihr Gott sein." Wo Gott bei uns wohnt – wie auch immer wir uns Gott vorstellen - da hat unsere Odyssee ein Ende, und wir  sind endlich angekommen. 
Amen.

Albrecht Dürer: Die Flucht nach Ägypten


Sylvia Unzeitig: "Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen" - Zuflucht in der Fremde. Predigt zu Matthäus 2,13-15 und Hosea 11,1



„Ein umherirrender Aramäer war mein Va­ter“, so wird ein Israelit im 5. Buch Mose (Dtn. 26,5) aufgefordert zu bekennen. Ihm soll bewusst sein, dass sein Leben von Gott geführt ist, dass es über Berge und Täler zu einem guten Ziel gelangt.
„Der Ewige hörte auf unser Rufen“, so heißt es dort, „und sah unser Elend, und führte uns aus Ägypten weg mit starker Hand und ausge­strecktem Arme, mit großen Schrec­ken, unter Zeichen und Wundertaten. Er brach­te uns an diesen Ort und gab uns die­ses Land, ein Land, das von Milch und Ho­nig fließt.“
Das Los der Flucht, die Erfahrung der Hei­mat­losigkeit durchzieht die Ge­schichten der Bibel. Da ist es wohl kein Wunder, dass selbst der Gottes­sohn dieses Schicksal mit uns teilt. Ich lese aus dem Matthäus­evan­ge­lium, Ka­pi­tel 2:

„Als sie (die Weisen) aber hinweggezogen waren, siehe, da erschien der Engel des Herrn dem Jo­sef im Traum und sprach: Steh auf, nimm das Kindlein und seine Mutter mit dir und flieh nach Ägypten und bleib dort, bis ich dir's sage; denn Herodes hat vor, das Kindlein zu suchen, um es umzubringen. Da stand er auf und nahm das Kindlein und seine Mutter mit sich bei Nacht und entwich nach Ägypten und blieb dort bis nach dem Tod des Herodes, damit erfüllt würde, was der Herr durch den Pro­pheten gesagt hat, der da spricht (Hosea 11,1): »Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen.« 

Für viele Bibelkritiker ist diese Stelle ein ge­fundenes Fressen! Wie wir in der Schriftle­sung gehört haben, wendet sich Gott im Ho­seabuch an sein Volk Israel, das er vor lan­ger Zeit aus Ägypten befreit hatte. Matthäus sieht darin aber eine Verheißung auf Jesus hin. So wie er viele Text­stel­len aus dem Al­ten Testament auf Jesus hin deutet. Es mag für man­chen schief klingen, aber für Matt­häus, der Jesus als den lang verhei­ßenen Messias sieht, passt alles. Das haben viele Zweifler nicht be­grif­fen: dass die Bibel kein Tatsachenbericht sein will, sondern sie viel­mehr Ge­scheh­nisse interpretiert. So wissen wir z. B. auch, dass der Kinder­mord in Bet­lehem wahrscheinlich eine Legende ist, weil er in anderen Quellen, die es über Herodes gibt, nirgends belegt ist. Aber was ge­sichert ist, ist die Tatsache, dass Herodes ein grau­samer und macht­besessener Herrscher war, der über Leichen ging, auch über die seiner Söhne, um seine Macht zu er­halten. Möglicherweise ist die Geschichte vom Kin­dermord ein Nach­hall auf die Schandtaten des Herodes.
Auch die Flucht nach Ägypten soll – laut Wis­­senschaft – nur eine Legen­de sein, weil es ja vermutlich auch keinen Kindermord ge­geben hat. Und trotzdem gibt es in Ägyp­ten zahlreiche Kirchen und Orte, die sich auf Er­eignisse beziehen, die auf der Flucht der Hei­ligen Familie in Ägypten ge­schehen sein sollen. Nach Auffassung der Kopten, so nen­nen sich die ägypti­schen Christen, bereiste die heilige Familie das Land drei Jahre und elf Monate lang. Auf dem Weg finden sich viele Stationen, Gedenk­kirchen und Grotten, wo das Jesuskind Halt gemacht haben soll - wie etwa eine Gedenkkirche in Mittel­ägyp­ten, nicht erbaut, sondern aus ei­nem riesi­gen Felsblock heraus geschlagen. In einer Grotte hat nach al­ten Berichten die Heilige Familie Quartier genommen. Heute ist der Ort eine winzige Kapelle, geweiht der Mutter Jesu.
Als kritischer, aufgeklärter Mensch schüttelt man da den Kopf und fragt sich, wie man das nur glauben kann, wo doch der Reise­weg im Evange­lium nicht einmal aufgeführt ist.
Doch es gibt eine Reihe von apokryphen Kind­heits­evan­gelien, in denen diese Lücke bei Matthäus ausgefüllt wird. So heißt es z. B. bei „Pseudo-Matthäus“: 

In der Begleitung Josefs waren drei Knaben und bei Maria ein Mädchen, die die Rei­se mitmachten. Und siehe, plötzlich kamen aus der Höhle viele Drachen, vor deren Anblick die Kinder vor bangem Entsetzen laut aufschrien.
Da stieg Jesus vom Schoß seiner Mutter herab und stellte sich vor den Drachen auf seine Füße. Sie aber fielen huldigend vor ihm nieder, und nach dieser Huldigung entfernten sie sich.

Man versteht nun, warum solche Texte nicht den Weg in den Kanon der biblischen Schrif­ten gefunden haben! Sie sind mit märchen­haften Zügen und blumenreichen Details ausgeschmückt, so dass auch ein halbwegs gebildeter Mensch versteht, dass hier nur im gewöhnlichen Gefühlsbe­reich gefischt wird.
Wie ist das aber nun mit den Texten der Kindheitsgeschichte im richtigen Matthäus-Evangelium? Wie sind sie zu verstehen?
Die wunderbare Rettung des Jesuskindes weckt etliche Anklänge im Al­ten Testament: da gibt es ein ähnliches Szenario bei der Geburt des Mo­se. Auch in seiner Zeit wur­den Kinder ihren Müttern weggenommen und von den ägyptischen Soldaten getötet. Doch Mose entkam wie durch ein Wunder.
Gottes Botschaft wird dem Josef im Traum vermittelt, so wie auch der alt­testamentliche Josef Gott im Traum vernahm. Und es gibt Anklänge in der antiken Literatur, die jetzt aber zu weit führen würden.
Analogien helfen uns, das Leben zu ent­schlüsseln. Indem Begebenhei­ten auf ähn­liche Weise schon einmal da gewesen sind, können wir Situa­tionen unseres Lebens besser verstehen und deuten. Das kann zwar wis­senschaftlich nicht nachgewiesen werden, aber das Herz versteht es trotzdem auf eine ganz tief empfundene Weise.
Diese Wahrheit des Lebens spürt man vor allem, wenn das Leben be­droht ist. Wie viele Geschichten gibt es vom Krieg und von der Flucht, wo die Erzähler sich auf wundersa­me Weise gerettet fühlen. Es war viel­leicht nur eine Tabakdose in der Brusttasche, die den Schuss auf’s Herz abgewehrt hat. Zu­fall? Oder der Soldat, der die aus Ostpreu­ßen flüch­tenden Frauen ermahnt, noch in der gleichen Nacht die rettende Brücke über die Oder zu überqueren – da sie in der näch­sten Stunde gesprengt wird. So ge­heim­nisvoll wie der Soldat auftauchte, verschwand er auch wieder.
Wenn wir uns nicht in solch bedrohlicher La­ge befinden, tun wir solche Geschichten als Zufall ab  - der Verstand wehrt sich ge­gen Wunder. Denn der „gute Kamerad“ zu meiner Seite fiel ja trotzdem.
Die Kinder auf der norwegischen Insel Utöya, die vor vier Jahren dem Attentäter Anders Breivik zum Opfer fielen, hatten wohl auch keinen Schutzengel? Und doch gab es auch die Überlebenden, die uns hinter­her die unglaublichsten Geschichten erzählen.
Wir können nur unser eigenes Leben be­ur­teilen und fühlen. Wenn wir ei­ne Gesamt­schau versuchen, wo dann alles ins ratio­na­le Bild passt, ver­lieren wir die innere Stim­me, die uns auf Gottes geheimnisvolles Wir­ken verweist.
Und davon reden die Geschichten der Bibel. Jakob spürt auf seiner Flucht vor Esau, dass Gott da ist, er weiß nicht wie, und dass er trotz seines Betrugs an Vater und Bruder von diesem Gott angenommen ist. Josef vertraut darauf, dass alles gut wird, auch wenn er sich die Schwan­gerschaft Marias nicht erklären kann. Auch die Hirten spüren, dass mit dem kleinen Kind in der ärmlichen Höhle etwas Neues begonnen hat, das ihrem elenden Dasein Hoffnung und Glanz gibt. Und ist dieses tiefe existenzielle Gefühl nicht bei der Geburt eines jeden Kindes da? Diese völlig unbegründete Gewissheit, dass diese Welt ein gutes Ziel hat trotz aller Be­drohung durch Terror und Kriege und die an­haltende Wirt­schafts­ungerechtigkeit und Kli­maveränderung?
Ja, der Messias kennt das von Anfang an: Bedrohung des Lebens, Flucht und Entbeh­rung, das Leben der armen Leute, doch auch die an­dere Seite: Solidarität der Wei­sen, Aufnahme in Ägypten, Gottes Schutz. Er teilt dieses Leben in all seinen Aspekten mit uns – das wollte Matt­häus uns Nachge­borenen eindrücklich vor Augen stellen. Und wenn der Messias es zu einem guten Ende gebracht hat, werden auch wir dies können, auch wenn es noch so viele Entbehrungen geben sollte. So be­kennen auch wir mit dem Israeliten:

„Mein Vater war ein umherirrender Aramäer und zog hinab nach Ägypten und war dort ein Fremdling mit wenig Leuten und wurde dort ein großes, starkes und zahlreiches Volk. Aber die Ägypter behandelten uns schlecht und bedrückten uns und legten uns einen harten Dienst auf. Da schrien wir zu dem HERRN, dem Gott unserer Väter. Und der HERR erhörte unser Schreien und sah unser Elend, unsere Angst und Not und führte uns aus Ägypten mit mächtiger Hand und ausgerecktem Arm und mit großem Schrecken, durch Zeichen und Wunder, und brachte uns an diese Stätte und gab uns dies Land, darin Milch und Honig fließt.
Nun bringe ich die Erstlinge der Früchte des Landes, das du, HERR, mir gegeben hast. - Und du sollst sie niederlegen vor dem Herrn, deinem Gott, und anbeten vor dem HERRN, deinem Gott, und sollst fröhlich sein über al­les Gut, das der HERR, dein Gott, dir und deinem Hause gegeben hat, du und der Fremdling, der bei dir lebt.“
Amen.