Mittwoch, 5. Oktober 2016

Pfarrer Markus Lautenschlager: Der geistliche Aufstieg zum Zion - der Wallfahrtspsalter: Psalmen 120-134


„Ich bin dann mal weg“. Seit Hape Kerkling vor 15 Jahren sein gleichnamiges Buch über seine Erfahrungen als Pilger auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostela, veröffentlicht hat, ist das Pilgern weit über den engeren Kreis der Kirche hinaus bekannt geworden. Das Buch ist inzwischen in 28. Auflage erschienen und wurde letztes Jahr mit Devid Striesow in der Hauptrolle verfilmt.
Pilgern: Einen Weg mit den eigenen Füßen gehen, mit möglichst wenig Gepäck und möglichst wenig Geld. Am besten mit nichts als sich selbst – omnia mea mecum porto. Mit den eigenen Füßen gehen in der Hoffnung und Erwartung, dass auch die Seele einen Weg findet: zur inneren Ruhe, zu sich selbst, zu Gott.
Bei Kerkeling war ein Zusammenbruch während einer Show der Auslöser. Der Arzt verordnete ihm eine Auszeit. Und Hape Kerkeling beschloss, die 782km lange Wanderung nach Santiago de Compostela in Angriff zu nehmen.
Die Weisheit des biblisch-jüdischen Glaubens verordnet gleich drei solcher Auszeiten und das nicht nur einmal im Leben, sondern jedes Jahr. „Dreimal im Jahre“, so lesen wir in 2. Mose 23,17, „soll erscheinen vor dem HERRN, dem Herrscher, alles was männlich ist unter dir.“ Drei Wallfahrtsfeste kennt das Judentum: Pessach, Schawuot und Sukkot – Passa, das Wochenfest und das Laubhüttenfest. Ursprünglich alle drei mit lebenswichtigen Ereignissen des bäuerlichen Jahres verknüpft: Pessach im Frühling fällt in die Zeit der ersten Gerstenernte. Schawuot, wörtlich „Wochen“, wird sieben Wochen nach Pessach gefeiert und begeht die Weizenernte und die Darbringung der Erstlingsfrüchte im Tempel. In unserem christlichen Festkalender sind das Ostern und Pfingsten. Und schließlich Sukkot, das Laubhüttenfest im Herbst zum Abschluss der Ernte. Die drei Erntefeste wurden dann mit den Ereignissen der Heilsgeschichte verbunden: Passah mit der Befreiung aus der ägyptischen Sklaverei, das Wochenfest mit der Gabe der Tora am Berg Sinai und das Laubhüttenfest mit der Zeit der Wüstenwanderung: „Sieben Tage sollt ihr in Laubhütten wohnen …, dass eure Nachkommen wissen, wie ich die Israeliten habe in Hütten wohnen lassen, als ich sie aus Ägyptenland führte“ (3. Mose 23,42f).
Für die Pilgerfahrt nach Jerusalem finden wir in der Bibel vor allem ein Verb: עלה / anabainein. Das heißt wörtlich: hinauf gehen, hinauf steigen. Der Ausstieg aus dem Alltag wird also bei der Wallfahrt zum Tempel auf dem Zion ein Aufstieg. Z.B. in 2. Mose 34,23f: „Dreimal im Jahr soll alles, was männlich ist, erscheinen vor dem HERRN, dem Gott Israels. Denn ich werde die Heiden vor dir ausstoßen und dein Gebiet weit machen und niemand soll dein Land begehren, während du dreimal im Jahr hinaufgehst, um vor dem HERRN deinem Gott, zu erscheinen.“ Josef und Maria besuchen mit dem zwölfjährigen Jesus das Passafest: „Und seine Eltern gingen alle Jahre nach Jerusalem zum Passafest. Und als er zwölf Jahre alt war, gingen sie hinauf nach dem Brauch des Festes.“ (Lukas 2,41f). In der Schriftlesung haben wir vom letzten Gang Jesu nach Jerusalem zu seinem Todespassa gehört: „Seht, wir gehen hinauf nach Jerusalem“ (Lk 18,31). Der Ausstieg als Aufstieg. Das liegt schlicht daran, dass die Pilger, egal ob aus dem Westen vom Mittelmeer her oder aus dem Osten vom Toten Meer her einige Höhenmeter machen müssen, um nach Jerusalem auf den Zion, den Tempelberg zu kommen. Vom Meer aus sind es 740 Höhenmeter bis auf den Tempelberg, von Jericho aus sogar fast 1000 Meter (genau 990).
Die Strapazen des körperlichen Aufstiegs werden unternommen in der Hoffnung, dass dem äußeren Aufstieg eine umfassende Erhebung entsprechen möge: Errettung aus der Demütigung durch Lügenmäuler (Psalm 120,2), Hilfe und Schutz von Jahwe (Psalm 121,2: Meine Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat; V. 7: Der Herr behüte deine Seele/dein Leben); Friede und Glück in der Gemeinschaft (Psalm 122); die Aufrichtung der durch Spott und Verachtung geknickten Seele (123,3f); äußere und innere Freiheit: „Unsre Seele ist entronnen wie ein Vogel dem Netze des Vogelfängers; das Netz ist zerrissen und wir sind frei (124,7); traumhafte Freude nach Tränen (Psalm 126); Erlösung von den Sünden (130); tiefe Geborgenheit bei Gott: Meine Seele ist wie ein gestillter Säugling, wie ein kleines Kind bei seiner Mutter (131); und in allem der Segen Gottes: Der Herr segne dich aus Zion, der Himmel und Erde gemacht hat (134,3).
Und damit sind wir bei den Wallfahrtspsalmen, aus denen alle eben gehörten Zitate stammen. Der Wallfahrtspsalter ist eine Sammlung aus 15 überwiegend sehr kurzen Psalmen. Sie haben alle eines gemeinsam: in der Überschrift steht das Wort מעלות / Maaloth. Das heißt wörtlich Aufstiege. Man hat es auch wiedergeben mit „Stufenlied“, d.h. zu singen auf eben den Stufen, die zum Tempel hinaufführen, oder auch mit „Heimkehrlied“ (aus der babylonischen Gefangenschaft), „Lied der Erhebung“ oder „Wallfahrtslied“ für den umfassenden Aufstieg der Pilger zu Gott. Diese Sammlung wurde vermutlich im 4. Jahrhundert zusammengestellt als Wallfahrtsbüchlein für Zionspilger und wohl auch für die, die zuhause bleiben mussten, als Zionsbrevier für die „geistliche Wallfahrt zum Zion“, den betenden und singenden Aufstieg des Herzens zu Gott.
Unsere Abendmahlsliturgie hat diesen Grundgedanken übernommen: Sursum corda! Die Herzen in die Höhe! Erhebet eure Herzen! / Wir erheben sie zum Herrn.
Vom Umfang her gehen alle 15 Wallfahrtspsalmen problemlos auf eine Kuhhaut, also auf eine einzige Pergamentrolle (oder bei den Ärmeren: auf eine Papyrusrolle) und konnten so von der Pilgergruppe mitgenommen werden.
Zwischen den Zeilen kann man erahnen, wie es den Menschen im 4. Jahrhundert unter der persischen Zwangsherrschaft ging: Sie litten unter dem „Zepter des Frevels“ (125,4), der persischen Zentralregierung und ihres Apparates, will sagen: der Steuerlast. Denn die Perser kassierten die Steuern nicht mehr in Naturalien, z.B. zehn Prozent der Ernte, sondern als vom Ertrag unabhängige Geldsumme. Bei Missernten hieß das: Verschuldung, Verpfändung, Verlust von Haus und Hof, Schuldsklaverei.
Ich lese Ihnen nun die beiden ersten Verse von Psalm 127 in der Übersetzung Erich Zengers:
Wallfahrtslied. Von Salomo
Wenn JHWH nicht ein Haus baut -
            vergeblich haben sich abgemüht, die an ihm bauen.
Wenn JHWH nicht eine Stadt bewacht -
            vergeblich hat gewacht ein Wächter.
Vergeblich ist’s für euch,
            die ihr schon in aller Frühe aufsteht,
            die ihr erst spät euch hinsetzt (zur Ruhe),
die ihr Brot der Mühsal eßt –
Dreimal „vergeblich“. Das ist die Erfahrung der kleinen Leute, der Handwerker und Taglöhner. Alle eigene Anstrengung kann durch eine willkürliche Entscheidung der „Großen“ zunichte gemacht werden. Einer rackert von morgens bis abends, verzichtet, spart ein Leben lang – und eine Missernte stürzt ihn in die Schuldsklaverei. Haus weg, Hof weg, Hoffnung weg. Man kann noch so sehr auf der Hut sein, die Gegenmächte sind zu stark. Wenn die Zeitläufte gegen einen sind, hat man keine Chance. Ein Hochwasser, eine Fassbombe und ich habe alles verloren. Vergeblich, vergeblich, vergeblich.
Sich in dumpfer Resignation zu ergeben in eine „in Schmerz und Brauchtum verstrickte, unendliche geduldige Welt … wo der Bauer in Elend und Verlassenheit auf karger Scholle im Angesicht des Tode seiner starren Sitte lebt“ (Carlo Levi, Christus kam nur bis Eboli), wäre eine Möglichkeit.
Die Wallfahrtspsalmen, Psalm 127, suchen einen anderen Weg – nun eben den Aufstieg heraus der Verzweiflung hin zur Hoffnung, „dass allen Bedrohungen zum Trotz das Leben in der Solidarität derer, die auf den vom Zion her segnenden JHWH setzen, gelingen wird“ (Erich Zenger). Eine kleine, unscheinbare Hoffnung macht den Anfang:
Zu Recht gibt er [JHWH] den von ihm Geliebten (guten)  Schlaf. (V. 2c)
Der gute Schlaf. Im Alten Orient eine Gabe der Götter und in der bäuerlichen Lebenswelt hoch geschätzt. Ein allnächtliches Zeichen der Zuwendung Gottes. Tägliches Atemholen für Leib und Seele, Einkehr auch in die nächtliche Gegenwelt des Traumes, die der Tyrannei des Tages bestreitet, das Ganze zu sein. Der Schlaf als Geschenk eines liebenden Gottes, sich wiederholende Erfahrung seiner Güte und Fürsorge. Vielleicht auch andersherum gewendet: Wenn ich glauben kann, dass ich ein Geliebter Gottes bin, mich bergen kann in seiner Güte, dann kann ich jeden Abend die Sorge um mein Leben in Gottes Hände geben und friedlich ein- und durchschlafen. „Denn ich befehle mich, meinen Leib und Seele und alles in deine Hände“ (Martin Luthers Abendsegen). „Ich lege mich hin und kann sogleich im Frieden einschlafen“ (Psalm 4,9).
Dem Schlaf tritt ein zweites Gottesgeschenk, ein zweites Lebensgut an die Seite: Kinder.
Siehe ein Erbteil von JHWH sind Söhne,
            ein Lohn (von ihm) ist die Frucht des Leibes.
Wie Pfeile in der Hand des Helden,
            so sind Söhne aus jungen Tagen.
Selig der Mann,
            der seinen Köcher mit ihnen gefüllt hat.
Nicht werden sie zuschanden,
            wenn sie verhandeln mit Feinden im Tor.
(Psalm 127, 3-5)
Noch ein Esser mehr! Wo es doch schon für die bisherigen nicht reicht. Noch ein Mund mehr, den es zu stopfen gilt. Kinder sind auch eine Last. Und die vielen satt zu kriegen, eine tägliche Herausforderung für Proletarier. Auch hier trifft der Psalmbeter eine Entscheidung: gegen die Resignation, für die Hoffnung. Kinder sind vor allem ein Gottesgeschenk. Ein Grund zur Freude und Dankbarkeit. Stütze, nicht Last.
Darf man den Kreis ausweiten auf alle Menschen? Das hieße dann: Ich sehe in ihnen nicht zuerst bedrohliche Gegner, gefährliche Konkurrenten um die knappen Güter des Lebens, sondern Bundesgenossen, Weggenossen. Mir von Gott an die Seite gestellt als Hilfe und Geschenk. Pilger können von dieser Erfahrung erzählen: ein kostenloses Nachtlager mit leckerem Frühstück am nächsten Morgen – gewährt von Wildfremden. Eine Begleiterin für einige Tage auf dem Jakobsweg. Beglückende Gespräche über Sprachbarrieren hinweg und einvernehmliches Schweigen. Eine Einladung zum Mittagessen. Wasser, Brot und Wein. Die Mitmenschen, wie wir gleich singen werden, keine wüste Horde, sondern eine „edle Schar“, „die Jesus mir, der Herre, entgegen hat gesandt, da ich noch war so ferne in meinem Tränenland.“ (EG 150,4). So kann der Aufstieg zum Zion zum Modell fürs Leben werden. Amen.