Mittwoch, 24. September 2014

Love is all around! Herzlich Willkommen!

Im Sommer 2014 wurde in fast allen evangelischen Kirchen auf dem Stadtgebiet Nürtingen über die Liebe gepredigt - genauer: über Liebesgeschichten aus der Bibel.
Hier sind nun beinahe alle diese Predigten gesammelt zum Nachlesen. Außerdem gibts dazwischen immer wieder Bilder, Videos und Musik zum Thema.
Am Ende dieser Seite einfach auf "ältere Beiträge" klicken - dort gehts weiter.

Und nun viel Vergnügen beim Lesen, Schauen und Hören!

Achja: Wenn Sie mehr von uns Prediger_innen hören wollen: über diesen Link finden Sie uns:
http://www.ev-kirchenbezirk-nuertingen.de/kirchengemeinden/

Montag, 15. September 2014

Karl-Heinz Graf: Verbotene Liebe? Jesus und Maria Magdalena

Liebe Gemeinde,
heute soll es n der Sommerpredigtreihe „Liebesgeschichten“ um eine Beziehung gehen, die wie keine andere im Neuen Testament seit jeher zu geheimnisvollen Spekulationen und raunenden Vermutungen Anlass gegeben hat: Es geht um die Beziehung zwischen Maria Magdalena und Jesus.
Wer war diese Frau, die in den Evangelien im Neuen Testament mehrmals erwähnt wird und ganz offensichtlich zum engeren Umfeld um Jesus gehört hat?
War Maria vielleicht nicht nur eine von vielen Jüngerinnen, sondern Jesu besondere Vertraute, vielleicht sogar die Geliebte Jesu? Hatte Jesus ein Verhältnis mit einer ehemaligen Prostituierten? War Maria Magdalena womöglich eine von den männlichen Aposteln später verdrängte Apostelin, die Jesus als Leiterin der Jüngerschaft eingesetzt hatte?
Oder war sie gar die Frau von Jesus und die Mutter von gemeinsamen Kindern mit Jesus? Der Film „Sakrileg“, der gerade in den Kinos läuft nach dem Buch „Der Da Vinci-Code“ treibt die Vermutungen sogar so weit auf die Spitze, dass darin nahe gelegt wird, über die ganze Kirchengeschichte hinweg seien die leiblichen Nachfahren Jesu von der Kirche totgeschwiegen und verfolgt worden, um auf keinen Fall die Göttlichkeit Jesu zu gefährden.
Viele solcher sensationellen und abenteuerlichen Vermutungen haben zurzeit Konjunktur im Kielwasser dieses Bestsellers von Dan Brown. Ich habe allein 18 neue deutschsprachige Romane und Populärsachbücher gezählt, die zwischen 2004 und 2006 zum Thema Jesus und Maria Magdalena erschienen sind.
Warum bietet gerade die Beziehung zwischen Jesus und Maria Magdalena so viel Anlass für geheimnisumwitterte Verschwörungstheorien?
Ich möchte versuchen, mich mit ihnen auf eine Spurensuche zu begeben, die uns helfen soll, das Wichtige vom Unwichtigen und das Wahrscheinliche vom Unwahrscheinlichen zu trennen.

Eine erste wichtige Wurzel für die Spekulationen um Maria Magdalena ist die Gleichsetzung von Maria Magdalena mit der „großen Sünderin“. Im Lukasevangelium wird von einer Frau berichtet, die Jesu Füße mit ihren Tränen benetzt und seine Füße salbt - und dass die Anwesenden sich darüber ärgern, weil sie als stadtbekannte Sünderin gilt. Man vermutet, dass diese „Sünderin“ vielleicht eine Ehebrecherin oder eine Prostituierte gewesen ist.
Es gibt allerdings in der Bibel keinen Namen von dieser Frau. Und es gibt erst recht  keinerlei Hinweis, dass diese Frau und Maria Magdalena ein und dieselbe Person gewesen wäre.
Erst relativ spät - im Jahr 519 - hatte Papst Gregor der Erste in einer Predigt Maria von Magdala mit dieser anonymen Prostituierten gleichgesetzt - und seitdem hielt sich diese legendäre Verbindung hartnäckig bis heute, obwohl es dafür keinerlei biblischen Beleg gibt. Diese legendäre Sicht von Maria als ehemaliger Dirne hat in gewisser Weise die Beziehung zwischen Jesus und Maria Magdalena erotisch aufgeladen. Jesus und eine Liebesverhältnis - das war spannend für alle, denen sowieso die oft enge moralistische Haltung der Kirche ein Dorn im Auge war. Bestärkt werden konnte das durch eine späte gnostische Schrift, das so genannten Philippus-Evangelium von etwa 150 nach Christus: Dort wird erzählt, dass Jesus Maria wiederholt auf den Mund geküsst habe und sie als seine Gefährtin bezeichnet wurde. Geprägt ist diese spätchristliche Schrift von einer deutlichen sektiererischen Kritik am Hauptkurs der damaligen Christenheit - und da hat man dann eben auch  das traditionelle Verständnis von Jesus kräftig umgedeutet!  
Jesus und Maria Magdalena als seine Geliebte! Eine solche Vorstellung von einer Liebesbeziehung Jesu mit einer Frau, noch dazu mit einer „gefallenen“ Frau, war für die etablierte Kirche immer ein Provokation ersten Ranges.
Hier konnte sich alle Kirchenkritik, alle Kritik am Männerklerus und der Leibfeindlichkeit der Kirche besonders gut anlagern und ausdrücken. Und so ist es bis heute geblieben! Die behauptete verbotene Liebe zwischen Maria Magdalena und Jesus wurde zum Symbol für den Verdacht, dass die Macht und die Lehre der Kirche die Wahrheit immer wieder unterdrückt und verbogen habe.

Was aber wissen wir nun eigentlich wirklich über diese Maria?
Die ältesten und ersten Quellen sind die Evangelien. Aus den Stellen, wo Maria namentlich erwähnt wird, können wir entnehmen:  Maria stammte aus Magdala beim See Genezareth - richtig übersetzt ist ihr Name also eigentlich
„Maria aus Magdala“. Im Lukasevangelium wird erwähnt, dass ihr durch Jesus sieben Dämonen ausgetrieben wurden. Zusammen mit anderen von Jesus geheilten Frauen hat sie Jesus und die 12 Jünger begleitet und mit ihrem Besitz für den Unterhalt Jesu gesorgt. Dabei wird Maria aber in keiner Weise den anderen namentlich genannten Frauen gegenüber - Johanna und Susanna - irgendwie besonders herausgehoben. Sowohl Markus wie Lukas berichten, dass Maria zusammen mit anderen Frauen bei der Kreuzigung Jesu zuschaute und die Frauen auch mitverfolgten, wohin sein Leichnam gelegt wurde. Maria aus Magdala war dann zusammen mit zwei anderen Frauen die erste Osterzeugin, nachdem sie frühmorgens zum Grab gingen, um den toten Jesus zu salben.
Im Johannesevangelium Kapitel 20 wird dann ausführlicher die Begegnung von Maria mit dem auferstandenen Jesus geschildert: Das leere Grab lässt die tief traurige Maria von Magdala zuerst - ganz natürlich - daran denken, dass der Leichnam Jesu irgendwie weggetragen worden sei. Sie erkennt den Auferstandenen nicht, hält ihn für den Gärtner und erst als Jesus sie beim Namen ruft, begreift sie, wer vor ihr steht. Als sie ihn erkennt, ruft sie voll Freude aus: „Rabbuni“ - das heißt übersetzt: „Mein Lehrer!“. Diese Bezeichnung beschreibt im Grunde das Verhältnis Marias zu Jesus: Er ist der von ihr hoch verehrte, vertraute Lehrer, der sie geheilt hat. 
Dafür war sie ihm dankbar und sie hat ihren Dank als Fürsorge für Jesus zurückzugeben versucht. Entgegen aller damaligen Hintansetzung der Frauen ließ Jesus sie zusammen mit anderen Frauen seine Schülerinnen sein, die zusammen mit den männlichen Jüngern ihm nachfolgten.
Dass Maria und Jesus ein durchaus herzliches Verhältnis zueinander hatten, könnte man dem Hinweis entnehmen, dass sie ihn nach dem Bericht des Johannesevangelium gleich umarmen wollte, als sie ihn dann am Ostermorgen erkannte. Es mag wohl auch möglich sein, dass sie für diesen Mann als Frau liebevolle Gefühle empfunden hat. Und es ist nicht einmal völlig auszuschließen, dass auch Jesus zu ihr eine besondere Zuneigung gehabt hat. Immerhin redet das Johannesevangelium auch von dem Jünger, den er besonders lieb gehabt hatte und gibt damit der Möglichkeit Raum, dass es auch bei dem Menschen Jesus Gefühle schwächerer und stärkerer persönlicher Zuneigung gab. Aber - wir wissen es nicht!
Nichts aber deutet darauf hin, dass Maria von Magdala zu Jesus eine intime Liebesbeziehung gehabt hätte.
Jesu Worte zur Ehe, die in allen Evangelien gleich lautend überliefert sind, zeigen, dass er das Gebot: „Du sollst nicht ehebrechen!“ sehr ernst genommen hat. „Jeder, der eine Ehefrau ansieht, um sie zu begehren, hat ihr gegenüber in seinem Herzen schon Ehebruch begangen“, sagt Jesus radikal in der Bergpredigt. Und das schließt nach damaligem Verständnis natürlich selbstverständlich jede außereheliche intime Beziehung sowieso aus. Dass Jesus diesem hohen Ehe-Ideal mit einer intimen Liebesbeziehung mit Maria Magdalena öffentlich völlig selbst widersprochen hätte, das ist einfach ganz unwahrscheinlich und es finden sich dafür in der biblischen Überlieferung tatsächlich auch keinerlei Spuren.

Ist es denn dann überhaupt gar keine Liebesgeschichte - diese Beziehung zwischen Jesus und Maria von Magdala?
Es kommt darauf an, was man unter Liebe versteht!
Dass Liebe sehr viel mehr umfasst, als die erotische Liebe, das macht gerade das biblische Zeugnis klar.
Gerade die griechisch Sprache, in der das Neue Testament verfasst ist, hat für die Liebe nicht nur ein Wort, sondern mehrere Worte. Wenn von der väterlich-mütterlichen Liebe Gottes geredet wird, dann geht es um die fürsorgende, elterliche Liebe, die agape. Die Nächstenliebe, von der Jesus redet und erst recht die Feindesliebe hat nichts mit Sympathie zu tun, sondern mit der christlichen Verantwortung, den anderen als Geschöpf Gottes zu achten. Und wenn Jesus insbesondere seine Jünger und Jüngerinnen aufruft: „Liebet einander, wie ich euch geliebt habe!“, dann geht es um die Hingabe und Treue, die Jesus vorgelebt hat und  mit der allerengste Freunde füreinander einstehen. Wenn der auferstandene Christus dann am Schluss des Johannesevangeliums Petrus dreimal fragt: „Hast du mich lieb?“, dann geht es da um den vertrauenden Glauben, der in Jesus das freundliche Angesicht Gottes erkannt hat.
Es gibt eben nicht nur die Liebe als leidenschaftliches erotisches Gefühl zwischen zwei Verliebten, sondern es gibt auch die Liebe einer Mutter zu ihrem Kind, die tiefe Zuneigung unter Freunden und die barmherzige Liebe Gottes zu den Menschen.
Von dieser Erkenntnis aus - meine ich - ist die Geschichte von Maria von Magdala und Jesus tatsächlich eine ganz eigene Liebesgeschichte! Auch wenn das menschliche Sensationsbedürfnis durch Marias Liebesgeschichte zu Jesus nicht bedient werden kann, so spielen doch darin Dinge eine Rolle, die wesentliche Bestandteile wirklicher Liebe sind.

Das erste wichtige Element der Liebe bei Maria ist die Dankbarkeit. Sie wurde durch Jesus von irgendeiner wahrscheinlich seelischen Gefangenheit und Qual befreit und geheilt. Geheilt zu sein war für sie nicht irgendeine Selbstverständlichkeit, sondern sie war Jesus dafür offensichtlich tief dankbar - so dankbar, dass sich ihre Dankbarkeit in der Hingabe für seine Sache ausdrückte. Sie hat ihn materiell unterstützt und wollte mehr wissen von diesem Lehrer. Dass Jesus sie mit anderen Frauen mitziehen ließ durch Galiläa war eine für uns heute kaum mehr nachvollziehbare Besonderheit, eine ungeheure Aufwertung und Gleichstellung dieser Frauen. So geachtet und respektiert zu werden hat Marias Zuneigung zu Jesus sicher noch besonders gestärkt. Als dann nach der Gefangennahme Jesu fast alle Jünger flohen und ein Petrus gar Jesus dreimal verleugnete, hat sie den Mut, nicht zu fliehen, sondern Jesus auf seinem Weg in die Isolation treu zu begleiten, so gut es möglich war. Sie steht am Kreuz. Sie folgt zum Grab. Sie möchte ihm auch nach dem Tod einen letzten Liebesdienst erweisen und wird am Ostermorgen dann zur Auferstehungszeugin, die nur allmählich begreift, dass ihre Liebe keine verlorene Liebe ist. Jesus ist für sie da - allerdings nun nicht mehr als der bewunderte Lehrer, sondern als der Gesalbte Gottes, der endzeitliche Messias, in dem Gottes Liebe zu ihr und zu allen Menschen Gestalt geworden ist.
Dankbarkeit, Hingabe, respektiert werden, Mut und Treue - all das sind ganz wesentliche Bestandteile wirklicher Liebe. Solche Liebe hat Maria von Magdala gelebt in der Nachfolge Jesu - und mir scheint, sie wäre darin ein gutes Modell für unser Verständnis von Nachfolge Jesu, für unsere Liebe zu Gott im Glauben:
Dankbarkeit für von Gott geschenkte Heilungen und  Befreiungen im Leben.
Fürsorgliche Hingabe im Tun des Guten.
Freude darüber, von Christus als eigener Mensch gewürdigt und geliebt zu werden.
Mut, sich zu Christus zu bekennen.
Treue im Festhalten an ihm.
Nachfolgen in diesem Sinn, liebe Gemeinde, heißt:
Jesus lieben! - und Maria von Magdala hat diese Liebe in der Nachfolge Jesu vorgemacht!

War es also eine Liebesgeschichte zwischen Jesus und Maria von Magdala? Ja, es war eine Liebesgeschichte, die viel, wenn auch nicht alles von der Bandbreite menschlicher Liebe umfasste.
Vielleicht könnte man Maria am ehesten als eine Freundin Jesu bezeichnen - und zwar in dem Sinn, in dem Jesus seine Jünger im Johannesevangelium „Freunde“ genannt hat.
Jesus unterscheidet dort den Freund vom Knecht, der bloßer Befehlsempfänger ist. Der Freund aber ist ein Eingeweihter.
Er hat Anteil an dem, was den anderen ausmacht. In diesem Sinn ist Maria Jesus in einer freundschaftlichen Liebe verbunden gewesen, die sie zu einer befreiten, selbstbewussten, mutigen und erwartungsvollen Frau gemacht hat. Und vielleicht könnte man - im Blick auf Maria - Glauben im christlichen Sinn ziemlich treffend genau so beschreiben: Das Leben im Bewusstsein der freundschaftlichen Liebe Jesu, in der ich mich als befreit und geachtet erlebe und zu einem dankbaren und hingebungsvollen Menschen verwandelt werde - wie Maria von Magdala!
Amen

Fräulein Jesus? Mehr zu Maria Magdalena und Jesus: siehe oben!

Samstag, 13. September 2014

Barbara Brückner-Walter: Komm her, meine Schöne! (Hoheslied)

„Siehe, mein Freund, du bist schön und lieblich!“ Sagt sie. Und er:  „Siehe, meine Freundin, du bist schön; schön bist du, deine Augen sind wie Taubenaugen.“
Liebe Gemeinde, hätten Sie gedacht, dass dieses Liebesgeflüster in der Bibel steht? Im Lied der Lieder – schir haschirim – im Hohelied, das Salomo zugeeignet wird, aber nicht wirklich von ihm stammt. Ja, da kann man, kann frau es lesen und sich daran freuen. In wunderschönen Bildern wenden sich zwei Liebende einander zu, beschwören ihre Liebe, besingen sie und geben so viel davon weiter: von ihrer Freude, ihrem Überschwang, ihrer Erfüllung! Heute dürfen sie zu Wort kommen, wenn ich das überhaupt mit Worten beschreiben kann, was da passiert. Ich möchte Sie einladen, Sie dürfen ruhig zuschauen und zuhören bei dem Liebesspiel der beiden. Nicht umsonst ist dieses Liebeslied ja in der Bibel aufgeschrieben, nicht umsonst. Nein, gewiss nicht! Aber warum eigentlich? Warum dürfen wir Bibel Lesenden teilhaben an dem Liebesgeflüster dieser beiden?
Früher haben die Bibelausleger – und das waren ausschließlich Männer – sie haben versucht, das Hohelied anders zu lesen und zu verstehen: als Allegorie, im übertragenen Sinn, als Bild für die Liebe zwischen Gott und den Menschen. Den strengen Kirchenvätern der alten Kirche mag es peinlich gewesen sein, diese Texte überhaupt zu lesen, für alles menschlich Körperliche und erst recht für Sexualität  hatten sie keinen Sinn oder durften zumindest keinen Sinn – keine Sinne - dafür haben.   
Inzwischen sind sich fast alle Theologinnen und Theologen darin einig, dass es im Hohelied um eine leidenschaftliche, erotische Liebe zwischen zwei Menschen geht. Und gerade deshalb ist es gut, dass dieses Lied in der Bibel steht. Denn ist es nicht eines der schönsten Gaben göttlicher Schöpfung, wenn sich Menschen in gegenseitiger Liebe aneinander und miteinander erfreuen können? Und diese Schöpfergabe darf, ja sie soll besungen werden, zum Lobe Gottes und der Menschen als Gottes Geschöpfe! Von Gott in diese Welt gestellt mit ihren vielen Möglichkeiten und Gefährdungen, mit der Gabe zu lieben - so erlebe ich mich, so mögen auch Sie sich erleben - als Mann oder als Frau: zur Liebe fähig; und doch will sie mir immer wieder entgleiten, die Liebe, die große. Im Hohelied kommt sie mir wirklich groß entgegen - und nimmt mich mit auf einen wunderbaren Liebespfad. Lassen auch Sie sich einladen, versuchen Sie einfach, sich zu öffnen für diese außergewöhnliche Liebeslyrik der hebräischen Bibel, die weder Scheu noch Scham kennt!
Wie schön werden die beiden Liebenden! Wie schön in den Augen des geliebten Partners, der geliebten Partnerin! „Mein Freund ist weiß und rot, auserkoren unter vielen Tausenden. Sein Haupt ist das feinste Gold. Seine Locken sind kraus, schwarz wie ein Rabe. Seine Augen sind wie tauben an den Wasserbächen, sie baden in Milch und sitzen an reichen Wassern. Seine Wangen sind wie Balsambeete, in denen Gewürzkräuter wachsen. Seine Lippen sind wie Lilien, die von fließender Myrrhe triefen. Seine Finger sind wie goldene Stäbe, voller Türkise. Sein Leib ist wie reines Elfenbein, mit Saphiren geschmückt. Seine Beine sind wie Marmorsäulen, gegründet auf goldenen Füßen. Seine Gestalt ist wie der Libanon, auserwählt wie Zedern. Sein Mund ist süß, und alles an ihm ist lieblich. – So ist mein Freund, ihr Töchter Jerusalems!“ (Hld 5,10-16) Stolz spricht sie von ihrem Geliebten, in diesen von orientalischer Natur und Kultur geprägten Bildern! Ganz unverblümt beschreibt sie ihn so, wie sie sich von ihm angezogen fühlt. Das ist das besondere an ihm, das für sie so besondere: nur er hat, was sie begehrt. Er allein ist es, der sie mit Liebe erfüllt.
Und er steht ihr in nichts nach, auch sie wird unter seinem liebenden Blick wunderschön. So redet er sie an: „Siehe, meine Freundin, du bist schön! Siehe, schön bist du! Deine Augen sind wie Taubenaugen hinter deinem Schleier. Dein Haar ist wie eine Herde Ziegen, die herabsteigen vom Gebirge Gilead. Deine Zähne sind wie eine Herde geschorener Schafe, die aus der Schwemme kommen; alle haben sie Zwillinge, und keines unter ihnen ist unfruchtbar. Deine Lippen sind wie eine scharlachrote Schnur, und dein Mund ist lieblich. Deine Schläfen sind hinter deinem Schleier wie eine Scheibe vom Granatapfel. Dein Hals ist wie der Turm Davids…deine beiden Brüste sind wie junge Zwillinge von Gazellen, die unter den Lilien weiden. Bis der Tag kühl wird und die Schatten schwinden, will ich zum Myrrhenberge gehen und zum Weihrauchhügel. Du bist wunderschön, meine Freundin, und kein Makel ist an dir.“ (Hld 4,1-7).
Und so verzehren sie sich in Sehnsucht und lassen sich rufen. Er lockt sie zum Liebesspiel: „Steh auf, meine Freundin! Komm mit mir, meine Braut!“ Sie wird für ihn zur Lilie unter den Dornen, und er für sie wie ein Apfelbaum unter den wilden Bäumen.  „…unter seinem Schatten zu sitzen begehre ich, und seine Frucht ist meinem Gaumen süß…Seine Linke liegt unter meinem Haupte, und seine Rechte herzt mich….Mein Freund gleicht einer Gazelle oder einem jungen Hirsch.“ -
„Du hast mir das Herz genommen, meine Schwester, liebe Braut“ -seine Worte verraten ein bisschen davon, um wie viel es geht: um alles! Das Körperliche steht im Mittelpunkt dieser Liebeslyrik, aber ihre Liebe erschöpft sich nicht darin. Ihre Sexualität ist vielmehr Ausdruck einer großen Liebe, die den und die andere ganz meint, als Person, nicht als Objekt der eigenen Begierde. Als größtes Geschenk vielmehr, das Menschen einander machen können. So singt sie: „Mein Freund ist mein, und ich bin sein“. „Meinem Freund gehöre ich, und nach mir steht sein Verlangen.“ Beide finden sie ihr Glück und ihre Erfüllung nicht in sich selbst, sondern im andern. Beide werden für den anderen, für die andere zur Quelle der Lust!
Und so bleibt auch offen, wer führt und wer geführt wird. Es ist ein Spiel auf Augenhöhe – welch revolutionäre Liebe in jener biblischen  Zeit der Männerherrschaft! Es ist die Frau, die begehrend das Lied eröffnet: „Er küsse mich mit dem Kusse seines Mundes…!“ Das Spiel geht hin und her, ein Geben und Nehmen, es wechseln aktiv und passiv, es wechselt, wer oben ist und wer unten. Alles bewegt sich, die Dinge sind im Fluss. Natürlich gibt es männliches und weibliches, aber die Zuteilung fließt: das Männliche ist nicht nur des Mannes, das Weibliche nicht nur der Frau. In dieser Liebe verschwimmen die Grenzen, und die Liebenden verlieren sich, aneinander und ineinander.
Wie berührend schön diese Liebe besungen wird, so kennt sie doch eben auch das andere, gefährdende. Aber vielleicht ist sie gerade deshalb so stark, die Liebe, weil sie sich wehren muss. Gegen das dunkle, gewalttätige, und dagegen, verloren zu gehen und zu verlieren. Da will sie ihm öffnen – „mein Innerstes wallte ihm entgegen“. „Aber als ich meinem Freund aufgetan hatte, war er weg und fortgegangen. Meine Seele war außer sich, dass er sich abgewandt hatte. Ich suchte ihn, aber ich fand ihn nicht; ich rief, aber er antwortete mir nicht.“ Der dunkle Untergrund, der die Liebe zerstört. Das Spiel kann auch misslingen, die Liebe kann scheitern. Das kennen die Menschen zu biblischer Zeit, auch davon wurde und wird gepredigt in diesem Sommer. Und das kennen wir alle bis in unsere Tage. Wo Menschen einander ausnutzen, unter Druck setzen, belügen, wo Gewalt im Spiel ist, wo die Würde des Partners, der Partnerin mit Füßen getreten wird, wo Liebe mit Besitzenwollen oder mit der Befriedigung der eigenen Bedürfnisse verwechselt wird, wo das Umfeld der Liebenden einen störenden, ja zerstörerischen Einfluss ausübt, da ist die Liebe in Gefahr. „Es fanden mich die Wächter, die in der Stadt umhergehen; die schlugen mich wund.“ Gewalt muss sie erleiden, schlimme Gewalt. „Die Wächter auf der Mauer nahmen mir meinen Überwurf.“ Eine Andeutung oder Anspielung auf jene wohl schrecklichste, entwürdigendste Form der Gewalt – vor schwarzen Abgründen also entfaltet sich der helle Liebeszauber des Hohelieds. „Ich beschwöre euch, ihr Töchter Jerusalems, findet ihr meinen Freund, so sagt ihm, dass ich vor Liebe krank bin!“
Sie finden sich. Gegen alles, was sich zwischen die Liebenden drängen will, über alles, was ihre Liebe gefährdet, scheint sie erhaben, die Liebe: das Spiel geht weiter. Aber am Ende dieser Liebeslyrik schwingt noch ein anderer, ein neuer Ton mit hinein. „Lege mich wie ein Siegel auf dein Herz, wie ein Siegel auf deinen Arm. Denn Liebe ist stark wie der Tod und Leidenschaft unwiderstehlich wie das Totenreich. Ihre Glut ist feurig und eine Flamme des Herrn, sodass auch viele Wasser die Liebe nicht auslöschen und Ströme sie nicht ertränken können. Wenn einer alles Gut in seinem Hause um die Liebe geben wollte, so könnte das alles nicht genügen.“   Er führt über die beiden Liebenden hinaus, dieser neue Ton. Weil diese Liebe alles überbietet. Es gibt nichts stärkeres – „Liebe ist stark wie der Tod…ihre Glut ist feurig und eine Flamme des Herrn…“ In dieser so alles überbordenden Liebe ist Gott selbst! Es ist das erste und einzige Mal, ganz am Schluss des Hohelieds, dass sich Göttliches hinein mischt. Und mit welcher Kraft, mit welchem Gewicht! Nichts könnte dies aufwiegen! Und auch nicht die dunkelsten Gefährdungen der Liebe, die ja so menschlich sind, können dem trotzen. Denn Göttliches ist ja immer schon da – in der Liebe, die beiden Liebenden haben’s längst schon gespürt, auch wenn’s nicht so direkt ausgesprochen wurde. Aber was ist’s denn anderes, wenn wir lieben, als dem entgegen zu leben, wofür uns Gott geschaffen und befähigt hat! Und so darf diese Liebeslyrik am Ende – und eigentlich schon von Anfang an – sich viel weiter gefasst und verstanden wissen: als Weg der Liebe, der so verlockend besungen wird, auf dem ich Gott begegnen und erspüren darf. Als Weg der Erotik – mit all den Schattierungen, die weit über das liebende Miteinander zweier Menschen hinaus weisen. Und auf diesem Weg darf ich mich immer wieder als Anfängerin bewegen – als Anfängerin der Liebe, die auch Fehler macht, die anderen vieles schuldig bleibt und doch immer wieder neu auf die Suche geht: auf die Suche nach der Liebe mit ihrer feurigen Glut und ihrer unwiderstehlichen Leidenschaft! Amen.

Gott, du Melodie meines Lebens,
du Klang und Musik –
sanft und zart
kraftvoll und stark –
geheimnisvoll mich liebkosend
berührend umfassend
oft so fern – und dann wieder
in mir, Gott.
Öffne meine Ohren –
damit ich deinen Klang höre
streichle meine Haut –
damit ich deine Berührung spüre
nimm mich in den Arm –
damit mein Herz Ruhe findet in dir
damit mein Körper Antwort ist
meine Lippen Worte formen
geborgen in dir, du mein Gott,
kann ich zur Antwort werden
und zögernd erklingt mein Lied
in der Welt für dich
und die Menschen:
für alle, die sich geliebt wissen und Liebe weiterschenken
für alle, die leiden und sich nach Liebe sehnen –
für die Opfer von Hass und Gewalt in der Ukraine, im nahen und mittleren Osten und überall auf der Welt, wo Krieg und Unfrieden herrschen.
Gott – du Melodie allen Lebens,
lass deine Menschen das Lied des Lebens und der Liebe singen.
Vaterunser im Himmel...