Die Nürtinger Gedenkinitiative ist eine Gruppe von Menschen, die die Geschichte der Opfer des Nationalsozialismus in Nürtingen aufarbeitet und bekannt macht.
Den sehr informative Internetauftritt der Gedenkinitiative gibt hier:
www.gedenken-nt.de
Donnerstag, 27. August 2015
Jakob Fuchs: "Wie ein Sperling verflattert aus seinem Nest" - Predigt zu Sprüche 27,8
Liebe Gemeinde,
vorgestern piepste es. Direkt vor mir und von ganz unten.
Ich war gerade aus der Haustür gekommen und um die Ecke gebogen und meine Fußsspitze hätte das kugelrunde Federbüschel, das sich da auf dem Boden befand, aus Unachtsamkeit beinahe in hohem Bogen in die Luft befördert, würde da nicht gerade der Versuch unternommen, mit aller Kraft zu zwitschern, das ganze aber nicht so richtig gelingen. Zwei stecknadelkopfgroße Augen blickten an mir hoch, bebender, bräunlich weißer Flaum das ganze Wesen. Und dann hüpfte das Federbündel, aufgeregt mit dem Flaum wippend, schwankend und eben piepsend in das nahe Gebüsch, von wo aus es mich weiter argwöhnisch, hoffnungsvoll, vielleicht auch ein bisschen neugierig beäugte.
Und ich? Ach ich hatte es eilig. Die Straßenbahn (ich wohne in Stuttgart), also die Straßenbahn wartete nicht und überhaupt hatte ich noch viel zu tun an dem Tag. Gerade jetzt kurz vor dem Urlaub noch schnell alle Dinge mehr oder weniger ordentlich zu Ende bringen, den Schreibtisch aufräumen – um dann endlich unbeschwert und froh (jetzt übermorgen, am Dienstag) in den Urlaub fliegen zu können. Unbeschwert wegfliegen um dann an einem anderen Ort ein paar Tage fern aller Probleme verbringen zu können.
Doch dieser kleine Vogel. Der ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Was war mit ihm geschehen? Gibt es um diese Jahreszeit überhaupt noch so kleine Vögel? Ist er aus dem Nest gefallen? Fliegen konnte der sicher noch nicht. Er war verschreckt, hilflos. Und ich bin vorbeigeeilt in meiner täglichen Hast. Hatte doch Wichtigeres im Kopf! Aber ich weiß auch, wie viele Katzen es hier gibt… Ach was, warum machte ich mir überhaupt Gedanken über so eine… Lappalie?! War es nicht vielmehr ich, der hier einen Vogel hatte? Diese Geschichte hatte ich dann doch fast vergessen, bis ich mich wieder an den Predigttext für den heutigen Sonntag machte. Er ist ganz kurz: "Wie ein Sperling verflattert aus seinem Nest, so ein Mensch von seiner Heimat." (Spr 27,8)
Diese erst einmal ganz unscheinbaren Zeilen aus der letzten der großen Sammlung des biblischen Sprüchebuches haben es in sich: Denn das hebräische Original kann ganz unterschiedlich übersetzt werden – und die Art wie es im Sprüchebuch vorkommt kann tatsächlich etwas über den aktuellen Umgang mit den Zu-uns-Flüchtenden, den Geflüchteten unter uns, aussagen.
Doch der Reihe nach: was hat dieser Spruch nun mit der Begegnung vor meiner Haustür zu tun? Nun, zunächst kommt der Vogel im Predigttext dem aus der morgendlichen Begegnung ganz nahe. Im Hebräischen steht da "zippor", gemeint ist wohl ein kleiner, schutzloser Vogel, der eben "zip, zip" macht und der, auch wenn er ausgewachsen ist, immer bedroht bleibt. Wir haben gerade von Lärche, Taube, Nachtigall, Glucke und Storch gesungen (EG 503). Alles positiv besetzte Vögel. In der Bibel kommt häufig der Adler vor, als Bild des machtvollen, schnellen und für seine Jungen fürsoglichen Vogels.
Der "zippor" dagegen, das ist der kleine aus dem Nest gefallene Sperling. Jederzeit kann es passieren: das aufgeschreckte Wegflattern – und das Weggehen aus der Heimat. Im Alten Testament werden ganze Völker, deren Heimat zerstört wird, immer wieder mit solchen kleinen Vögeln in Verbindung gebracht. Am Ende wird sogar dem damaligen großen und mächtigen Reich von Assur die Macht und der Reichtum wie ein Nest genommen, sodass am Ende, so heißt es im Buch Jesaja, "keiner mehr da ist, der mit den Flügeln schlug, und keiner, der den Schnabel aufriss und piepste." (Jes 10,14).
"Wie ein Sperling verflattert aus seinem Nest, so ein Mensch von seiner Heimat."
Dass Menschen ihre Orte verlassen, verlassen müssen, das ist im Alten Testament etwas ganz Alltägliches: "Rühme dich nicht des morgigen Tages, denn du weißt nicht, was ein Tag gebiert." (Spr 27,1) steht dann auch programmatisch am Anfang der Sprüchesammlung, in der unser Vers vorkommt. Aber können wir das nicht gerade auch in unserer Zeit erleben: ob nun jeden Abend in den Nachrichten, angesichts des schnell hergerichteten Containerdorfs für Flüchtlinge in der Kanalstraße, oder indem wir an unsere eigenen oder an unsere Familiengeschichten denken. Die ganze Braike wurde einmal vor allem für aus der Heimat Vertriebene gebaut. Und während wir hier Gottesdienst feiern warten Menschen am Ufer des Mittelmeeres auf die (scheinbar?) rettende Überfahrt.
2.
Vor kurzem traf ich Daria, eine Frau aus dem Jemen, die wie ich an der Universtität arbeitet. Sie ist vor ein paar Jahren nach Deutschland gekommen. Eigentlich weil sie Ärztin werden wollte und dann so schnell wie möglich zurück. Jetzt ist sie immer noch da und kann nicht mehr zu ihrer Familie. Denn sie ist Christin, wie ihre Verwandten im Jemen auch, die im Bürgerkrieg, der dort aktuell tobt nur noch unter Lebensgefahr das Haus verlassen können. Ohnmächtig kann sie nur noch von ferne das Leid ihrer Freunde und Geschwister miterleben. Sie fragt sich, mit welchem Recht sie hier gelandet ist – und sonst keiner der von ihr geliebten Menschen. Sie sagt sie könnte hier Karriere machen, doch sie ist wie gelähmt. Sie fühlt sich schuldig, sie weiß nicht wie.
"Wie ein Sperling verflattert aus seinem Nest, so ein Mensch von seiner Heimat."
Man kann auch sinngemäß übersetzen: "Wie ein Sperling mutwillig aus seinem Nest wegfliegt, so auch der Mensch, der seinen ihm anvertrauten Ort verlässt." Der Vers stellt damit angesichts von Flucht und Vertreibung eine Schuldfrage, die in vielen Fällen ganz absurd erscheint und die doch immer mit dabei ist: Konnte ich wirklich nichts anderes tun als zu fliehen? Menschen zurücklassen, die eigentlich auf meine Fürsorge angewiesen sind, fragt sich Daria.
Wer flieht „zu Recht“ und wer „zu Unrecht“?
Diese Frage stellen sich nicht nur die Flüchtenden selbst. Sie geht seit vielen Wochen durch alle unsere Medien, sie ist die Grundlage, auf in diesem Jahr über 200.000 Asylanträge entschieden werden. Es bleibt ein mulmiges Gefühl zurück am Ende. Für alle Beteiligten: Habe ich dem Schutzbedürftigen am Ende doch keinen Schutz gewährt? Bin ich geflohen, auch wenn ich es hätte vermeiden können, ja vermeiden sollen? Wen habe ich, wissentlich oder unwissentlich, verjagt und hinausgetrieben aus seinem Heimatort?
3.
Da ist Georg, der, wie er selbst sagt, „irgendwann aus diesem ganzen dummen Land abgehauen“ ist. Mal arbeitete er in Tokio an einem Businessprojekt, mal trampte er durch die USA. Nur eines wollte er nie mehr: zurück in die Eifel, wo seine Mutter wohnt, die „wohl nicht mehr ganz richtig im Kopf“ ist, wo seine Schwester wie alle anderen auch „irgendwen von nebenan“ geheiratet hat, und wo er obendrein auch noch seine Schulden zurückzahlen müsste, würde er sich dort einmal wieder sehen lassen. Das hat er jetzt seit fünfzehn Jahren nicht getan. „Was soll’s: Du kannst Dich jeden Tag neu erfinden!“ „You Only Live Once“ - „Man lebt nur einmal“. Ja, es geht seiner Mutter schlecht, aber „ich gehöre zur ganzen Welt, Mann, nicht zu irgendwem“. Später erfahre ich noch eine andere Seite der Geschichte: Seine Familie hat sich mit ihm überworfen, als er noch in der Schule war. Er wollte unbedingt raus aus dem Dorf, sie versuchten ihn mit allen Mitteln zu halten. Bis er dann ganz weg war.
Wer ist im Recht und wer im Unrecht? Ist das eigentlich die erste Frage, die sich angesichts von fliehenden Menschen stellt? Ersteinmal ist da nur nackte Panik. Der Vogel der plötzlich aufflattert, weil sich jemand an seinem Nest zu schaffen macht wägt nicht zunächst sachlich das Für und Wider ab. Er will in diesem Moment auch nicht an einen bestimmten Ort, sondern, wie Georg es formulierte, „einfach nur raus“.
4.
Die Gewissensbisse, die kommen erst danach. Der Migrationssoziologe Paul Collier spricht davon, dass eigentlich jede Flucht, niemals nur den, der flieht, sondern eigentlich drei Gruppen von Menchen mit einschließt: diejenigen, die zurückbleiben, diejenigen, die fliehen, diejenigen, bei denen Schutz gesucht wird. Sie alle werden sich am Ende einer Flucht fragen, ob sie eigentlich das “Richtige” getan haben.
Natürlich kann ich die Augen verschließen - vor den Gründen, weshalb so viele weggehen. Ich kann die Augen verschließen - vor dem neuen Land, in das ich komme. Ich kann die Augen verschließen - vor denjenigen, die hier ankommen und um Aufnahme bitten. Aus Angst hinzusehen richte ich dann Gitter auf zwischen Menschen. Ich erlebe den anderen als Teil einer Menschengruppe. Ich trenne zwischen denen, die zu mir gehören, und denjenigen, mit welchen nach anderen Regeln zu verfahren ist. Doch das mulmige Gefühl wird auch dann bleiben: was ist das, das „Richtige“ tun?
5.
"Wie ein Sperling verflattert aus seinem Nest, so ein Mensch von seiner Heimat."
Ich lese gerne im Buch der Sprüche in der Bibel, weil es, auch wenn es aus dem achten Jahrhundert vor Christus stammt, sehr konkret wird: Die Tatsache dass Menschen immer wieder fliehen, fliehen müssen wird hier nicht abgestritten; ebensowenig die schier unauflösbare Schuldfrage, die sich dadurch stellt. Denn: grundlos verlässt kein Vogel sein Nest. Aber der Text bleibt hier nicht stehen. Die Spruchsammlung umrahmt unseren Vers mit Anweisungen zu wahrhaftiger, gegenseitiger Zuwendung, zu guter Nachbarschaft, zur Freundschaft. Die steht vor allem gegen die immer gegebene Gefahr des Heimatloswerdens!
Zwar ist das Sprüchebuch auch so realistisch, eine solide wirtschaftliche Grundlage und vor allem ein gerechtes Staatswesen nicht zu verachten. Selbst vor verkehrten Menschen wird gewarnt: Denjenigen, die Menschen gegeinander aufhetzen und dabei jedes gute Miteiander untergraben. Auch die finden wir in unseren Tagen. Entscheidend ist aber dann doch etwas anderes und viel einfacheres: Dass Menschen sich einander zuwenden, durch Freundschaft, den Ort, an dem sie sind, erst zur Heimat machen.
Denn wirklich zur Bedrohung wird die Heimatlosigkeit erst dann, wenn kein Freund da ist, der hilft die Heimat zu bewahren – oder der an einem neuen Ort hilft, eine neue zu begründen.
Und für das Sprüchebuch steht ohne Zweifel, dass Gott an einer jeden solchen Freundschaft teilhat. Seine Zuwendung ermöglicht es, dass Menschen füreinander handeln, miteinander das Reich Gottes suchen können, befreit von der Angst, heimatlos zu werden.
Wir sind Bürger des Reiches Gottes und haben unsere Heimat immer schon bei ihm. Das befreit: Vom ängstlichen Kreisen um das eigene Nest, vom argwöhnischen Beobachten der Flüge der anderen.
Seht die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Sind wir denn nicht viel mehr als sie?
(vgl. Lesung Mt 6,25-34)
Amen.
vorgestern piepste es. Direkt vor mir und von ganz unten.
Ich war gerade aus der Haustür gekommen und um die Ecke gebogen und meine Fußsspitze hätte das kugelrunde Federbüschel, das sich da auf dem Boden befand, aus Unachtsamkeit beinahe in hohem Bogen in die Luft befördert, würde da nicht gerade der Versuch unternommen, mit aller Kraft zu zwitschern, das ganze aber nicht so richtig gelingen. Zwei stecknadelkopfgroße Augen blickten an mir hoch, bebender, bräunlich weißer Flaum das ganze Wesen. Und dann hüpfte das Federbündel, aufgeregt mit dem Flaum wippend, schwankend und eben piepsend in das nahe Gebüsch, von wo aus es mich weiter argwöhnisch, hoffnungsvoll, vielleicht auch ein bisschen neugierig beäugte.
Und ich? Ach ich hatte es eilig. Die Straßenbahn (ich wohne in Stuttgart), also die Straßenbahn wartete nicht und überhaupt hatte ich noch viel zu tun an dem Tag. Gerade jetzt kurz vor dem Urlaub noch schnell alle Dinge mehr oder weniger ordentlich zu Ende bringen, den Schreibtisch aufräumen – um dann endlich unbeschwert und froh (jetzt übermorgen, am Dienstag) in den Urlaub fliegen zu können. Unbeschwert wegfliegen um dann an einem anderen Ort ein paar Tage fern aller Probleme verbringen zu können.
Doch dieser kleine Vogel. Der ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Was war mit ihm geschehen? Gibt es um diese Jahreszeit überhaupt noch so kleine Vögel? Ist er aus dem Nest gefallen? Fliegen konnte der sicher noch nicht. Er war verschreckt, hilflos. Und ich bin vorbeigeeilt in meiner täglichen Hast. Hatte doch Wichtigeres im Kopf! Aber ich weiß auch, wie viele Katzen es hier gibt… Ach was, warum machte ich mir überhaupt Gedanken über so eine… Lappalie?! War es nicht vielmehr ich, der hier einen Vogel hatte? Diese Geschichte hatte ich dann doch fast vergessen, bis ich mich wieder an den Predigttext für den heutigen Sonntag machte. Er ist ganz kurz: "Wie ein Sperling verflattert aus seinem Nest, so ein Mensch von seiner Heimat." (Spr 27,8)
Diese erst einmal ganz unscheinbaren Zeilen aus der letzten der großen Sammlung des biblischen Sprüchebuches haben es in sich: Denn das hebräische Original kann ganz unterschiedlich übersetzt werden – und die Art wie es im Sprüchebuch vorkommt kann tatsächlich etwas über den aktuellen Umgang mit den Zu-uns-Flüchtenden, den Geflüchteten unter uns, aussagen.
Doch der Reihe nach: was hat dieser Spruch nun mit der Begegnung vor meiner Haustür zu tun? Nun, zunächst kommt der Vogel im Predigttext dem aus der morgendlichen Begegnung ganz nahe. Im Hebräischen steht da "zippor", gemeint ist wohl ein kleiner, schutzloser Vogel, der eben "zip, zip" macht und der, auch wenn er ausgewachsen ist, immer bedroht bleibt. Wir haben gerade von Lärche, Taube, Nachtigall, Glucke und Storch gesungen (EG 503). Alles positiv besetzte Vögel. In der Bibel kommt häufig der Adler vor, als Bild des machtvollen, schnellen und für seine Jungen fürsoglichen Vogels.
Der "zippor" dagegen, das ist der kleine aus dem Nest gefallene Sperling. Jederzeit kann es passieren: das aufgeschreckte Wegflattern – und das Weggehen aus der Heimat. Im Alten Testament werden ganze Völker, deren Heimat zerstört wird, immer wieder mit solchen kleinen Vögeln in Verbindung gebracht. Am Ende wird sogar dem damaligen großen und mächtigen Reich von Assur die Macht und der Reichtum wie ein Nest genommen, sodass am Ende, so heißt es im Buch Jesaja, "keiner mehr da ist, der mit den Flügeln schlug, und keiner, der den Schnabel aufriss und piepste." (Jes 10,14).
"Wie ein Sperling verflattert aus seinem Nest, so ein Mensch von seiner Heimat."
Dass Menschen ihre Orte verlassen, verlassen müssen, das ist im Alten Testament etwas ganz Alltägliches: "Rühme dich nicht des morgigen Tages, denn du weißt nicht, was ein Tag gebiert." (Spr 27,1) steht dann auch programmatisch am Anfang der Sprüchesammlung, in der unser Vers vorkommt. Aber können wir das nicht gerade auch in unserer Zeit erleben: ob nun jeden Abend in den Nachrichten, angesichts des schnell hergerichteten Containerdorfs für Flüchtlinge in der Kanalstraße, oder indem wir an unsere eigenen oder an unsere Familiengeschichten denken. Die ganze Braike wurde einmal vor allem für aus der Heimat Vertriebene gebaut. Und während wir hier Gottesdienst feiern warten Menschen am Ufer des Mittelmeeres auf die (scheinbar?) rettende Überfahrt.
2.
Vor kurzem traf ich Daria, eine Frau aus dem Jemen, die wie ich an der Universtität arbeitet. Sie ist vor ein paar Jahren nach Deutschland gekommen. Eigentlich weil sie Ärztin werden wollte und dann so schnell wie möglich zurück. Jetzt ist sie immer noch da und kann nicht mehr zu ihrer Familie. Denn sie ist Christin, wie ihre Verwandten im Jemen auch, die im Bürgerkrieg, der dort aktuell tobt nur noch unter Lebensgefahr das Haus verlassen können. Ohnmächtig kann sie nur noch von ferne das Leid ihrer Freunde und Geschwister miterleben. Sie fragt sich, mit welchem Recht sie hier gelandet ist – und sonst keiner der von ihr geliebten Menschen. Sie sagt sie könnte hier Karriere machen, doch sie ist wie gelähmt. Sie fühlt sich schuldig, sie weiß nicht wie.
"Wie ein Sperling verflattert aus seinem Nest, so ein Mensch von seiner Heimat."
Man kann auch sinngemäß übersetzen: "Wie ein Sperling mutwillig aus seinem Nest wegfliegt, so auch der Mensch, der seinen ihm anvertrauten Ort verlässt." Der Vers stellt damit angesichts von Flucht und Vertreibung eine Schuldfrage, die in vielen Fällen ganz absurd erscheint und die doch immer mit dabei ist: Konnte ich wirklich nichts anderes tun als zu fliehen? Menschen zurücklassen, die eigentlich auf meine Fürsorge angewiesen sind, fragt sich Daria.
Wer flieht „zu Recht“ und wer „zu Unrecht“?
Diese Frage stellen sich nicht nur die Flüchtenden selbst. Sie geht seit vielen Wochen durch alle unsere Medien, sie ist die Grundlage, auf in diesem Jahr über 200.000 Asylanträge entschieden werden. Es bleibt ein mulmiges Gefühl zurück am Ende. Für alle Beteiligten: Habe ich dem Schutzbedürftigen am Ende doch keinen Schutz gewährt? Bin ich geflohen, auch wenn ich es hätte vermeiden können, ja vermeiden sollen? Wen habe ich, wissentlich oder unwissentlich, verjagt und hinausgetrieben aus seinem Heimatort?
3.
Da ist Georg, der, wie er selbst sagt, „irgendwann aus diesem ganzen dummen Land abgehauen“ ist. Mal arbeitete er in Tokio an einem Businessprojekt, mal trampte er durch die USA. Nur eines wollte er nie mehr: zurück in die Eifel, wo seine Mutter wohnt, die „wohl nicht mehr ganz richtig im Kopf“ ist, wo seine Schwester wie alle anderen auch „irgendwen von nebenan“ geheiratet hat, und wo er obendrein auch noch seine Schulden zurückzahlen müsste, würde er sich dort einmal wieder sehen lassen. Das hat er jetzt seit fünfzehn Jahren nicht getan. „Was soll’s: Du kannst Dich jeden Tag neu erfinden!“ „You Only Live Once“ - „Man lebt nur einmal“. Ja, es geht seiner Mutter schlecht, aber „ich gehöre zur ganzen Welt, Mann, nicht zu irgendwem“. Später erfahre ich noch eine andere Seite der Geschichte: Seine Familie hat sich mit ihm überworfen, als er noch in der Schule war. Er wollte unbedingt raus aus dem Dorf, sie versuchten ihn mit allen Mitteln zu halten. Bis er dann ganz weg war.
Wer ist im Recht und wer im Unrecht? Ist das eigentlich die erste Frage, die sich angesichts von fliehenden Menschen stellt? Ersteinmal ist da nur nackte Panik. Der Vogel der plötzlich aufflattert, weil sich jemand an seinem Nest zu schaffen macht wägt nicht zunächst sachlich das Für und Wider ab. Er will in diesem Moment auch nicht an einen bestimmten Ort, sondern, wie Georg es formulierte, „einfach nur raus“.
4.
Die Gewissensbisse, die kommen erst danach. Der Migrationssoziologe Paul Collier spricht davon, dass eigentlich jede Flucht, niemals nur den, der flieht, sondern eigentlich drei Gruppen von Menchen mit einschließt: diejenigen, die zurückbleiben, diejenigen, die fliehen, diejenigen, bei denen Schutz gesucht wird. Sie alle werden sich am Ende einer Flucht fragen, ob sie eigentlich das “Richtige” getan haben.
Natürlich kann ich die Augen verschließen - vor den Gründen, weshalb so viele weggehen. Ich kann die Augen verschließen - vor dem neuen Land, in das ich komme. Ich kann die Augen verschließen - vor denjenigen, die hier ankommen und um Aufnahme bitten. Aus Angst hinzusehen richte ich dann Gitter auf zwischen Menschen. Ich erlebe den anderen als Teil einer Menschengruppe. Ich trenne zwischen denen, die zu mir gehören, und denjenigen, mit welchen nach anderen Regeln zu verfahren ist. Doch das mulmige Gefühl wird auch dann bleiben: was ist das, das „Richtige“ tun?
5.
"Wie ein Sperling verflattert aus seinem Nest, so ein Mensch von seiner Heimat."
Ich lese gerne im Buch der Sprüche in der Bibel, weil es, auch wenn es aus dem achten Jahrhundert vor Christus stammt, sehr konkret wird: Die Tatsache dass Menschen immer wieder fliehen, fliehen müssen wird hier nicht abgestritten; ebensowenig die schier unauflösbare Schuldfrage, die sich dadurch stellt. Denn: grundlos verlässt kein Vogel sein Nest. Aber der Text bleibt hier nicht stehen. Die Spruchsammlung umrahmt unseren Vers mit Anweisungen zu wahrhaftiger, gegenseitiger Zuwendung, zu guter Nachbarschaft, zur Freundschaft. Die steht vor allem gegen die immer gegebene Gefahr des Heimatloswerdens!
Zwar ist das Sprüchebuch auch so realistisch, eine solide wirtschaftliche Grundlage und vor allem ein gerechtes Staatswesen nicht zu verachten. Selbst vor verkehrten Menschen wird gewarnt: Denjenigen, die Menschen gegeinander aufhetzen und dabei jedes gute Miteiander untergraben. Auch die finden wir in unseren Tagen. Entscheidend ist aber dann doch etwas anderes und viel einfacheres: Dass Menschen sich einander zuwenden, durch Freundschaft, den Ort, an dem sie sind, erst zur Heimat machen.
Denn wirklich zur Bedrohung wird die Heimatlosigkeit erst dann, wenn kein Freund da ist, der hilft die Heimat zu bewahren – oder der an einem neuen Ort hilft, eine neue zu begründen.
Und für das Sprüchebuch steht ohne Zweifel, dass Gott an einer jeden solchen Freundschaft teilhat. Seine Zuwendung ermöglicht es, dass Menschen füreinander handeln, miteinander das Reich Gottes suchen können, befreit von der Angst, heimatlos zu werden.
Wir sind Bürger des Reiches Gottes und haben unsere Heimat immer schon bei ihm. Das befreit: Vom ängstlichen Kreisen um das eigene Nest, vom argwöhnischen Beobachten der Flüge der anderen.
Seht die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Sind wir denn nicht viel mehr als sie?
(vgl. Lesung Mt 6,25-34)
Amen.
Dienstag, 25. August 2015
Das Wunder von Riace
Ein kleines italienisches Dorf, in dem viele Häuser leer standen, nimmt gezielt Flüchtlinge auf - hier gibt es einen kleinen Film dazu:
https://www.facebook.com/video.php?v=1625710857700036&pnref=story
https://www.facebook.com/video.php?v=1625710857700036&pnref=story
Montag, 24. August 2015
Was ist das Gegenteil von Flucht?
... fragt die Comiczeichnerin Nathalie Bromberger auf ihrem Blog - und erzählt die Geschichte ihrer Familie hier:
http://www.nathalie-bromberger.de/was-ist-das-gegenteil-von-flucht/
http://www.nathalie-bromberger.de/was-ist-das-gegenteil-von-flucht/
Montag, 17. August 2015
Bärbel Brückner-Walter: "Wir haben hier keine bleibende Stadt" - Predigt zu Hebräer 13,14
Liebe
Gemeinde,
Odyssey
- Abschied und Verlust, Not und Leid durch Vertreibung. Fremdsein hier im
Deutschland der Naziherrschaft, Internierung und Zwangsarbeit, Angst und
Schrecken in den Jahren nach dem Krieg –
Irrwege auf der Suche nach Leben. Mit seinen Figuren zeichnet der Künstler
Robert Koenig einen Weg, er
beginnt in der polnischen Heimat seiner Familie und führt schließlich
auch nach Deutschland. Immer mehr Figuren kommen dazu: von Polen bis hierher
nach Nürtingen sind es schließlich 44 Wächterinnen und Wächter der Erinnerung.
„Wir haben hier keine bleibende Stadt,
sondern die zukünftige suchen wir“
- heißt es im Hebräer-Brief.
Da
stehen sie – wie Fremde. Manche
starren mich so seltsam an; fordern mich heraus – und ich versuche
vorsichtig, mich ihnen zu nähern. Wenn ich sie so anschaue, komme ich ins Nachdenken, über
meinen eigenen Lebensweg, über den anderer Menschen. Und kann hinter jeder der 44 Odyssey- Figuren Schicksale erahnen: Schicksale von
Flucht und Vertreibung, von Heimatlosigkeit und der Suche nach einem Ort, wo es
sich leben lässt. Schicksale aus der Zeit des Nationalsozialismus
und der Jahre danach, bis in unsere Gegenwart hinein – Schicksale von Flucht,
von Migration, von Umherirren. Manche von uns haben das ja am eigenen Leib erfahren, damals nach dem Krieg, oder auch später,
als sog. Gastarbeiter/innen. Oder als Spätaussiedler, und heute als
Flüchtlinge „Wir haben hier keine
bleibende Stadt…“ es ist die bittere Erfahrung von Menschen, die alles hinter
sich gelassen haben – damals wie heute. Es ist die Geschichte meiner Eltern. - Und
manche Begegnungen in meiner Gemeinde haben sich tief in mein
Gedächtnis eingeprägt: Mit Menschen aus Russland, aus der Ukraine, aus
Kasachstan; sie haben mir erzählt, wie sie nach Deutschland gekommen sind und unter großen Mühen eine neue Existenz
aufgebaut haben. Welch lange Wege haben sie zurückgelegt, mit wie viel Umwegen,
bis sie endlich angekommen sind.
Und
dann die bewegende Schilderung jenes afghanischen Flüchtlings in einem
Gottesdienst in der Lutherkirche - ganz offen hat er von seiner Flucht
gesprochen–und so, dass es allen unter die Haut ging.
„Wir
haben hier keine bleibende Stadt…“ das könnten sie auch sagen, die
„Wächterinnen und Wächter der Erinnerung“ – der Erinnerung an die, die nicht
mehr da sind. Und an die, die heute fliehen:
Weil
Terror, Krieg und Not das Leben so vieler Menschen zur Hölle machen! Wo
Menschen ihre Meinung nicht mehr frei äußern dürfen, ihre Religion nicht mehr offen leben können, nicht wissen,
wie sie über die Runden kommen sollen und um ihr Leben bangen. Flucht als letzter
Ausweg - das trifft heute weltweit so viele Menschen wie noch nie.
„Wir haben hier keine bleibende Stadt,
sondern die zukünftige suchen wir.“ Flucht und Vertreibung hautnah – den Odyssey-Figuren kann ich
mich schwer entziehen. Hinter den ernsten Gesichtern spüre ich bohrende Fragen:
Wie begegnest du den Fremden in deiner Stadt? Was hast du zu sagen, wenn
Flüchtlingsunterkünfte in deinem Land in Flammen aufgehen?
Die
bedrängenden Fragen unserer Zeit lassen mir keine Ruhe. Die Krisen dieser Welt haben mich,
haben uns alle hier längst eingeholt:
Odyssen - und die Suche nach dem, was wirklich trägt, in einer Zeit der
Verunsicherung.
„Wir
haben hier keine bleibende Stadt,
sondern die zukünftige suchen wir“ – das heißt für mich auch:
Ich
will mich nicht zufrieden geben mit dem, was ich von Wirtschaftsexperten
erfahre – zum Beispiel durch solche Meldungen wie diese über die riesigen
Kapitalflüsse rund um den Erdball: ganze 2 Euro 50 von Hundert dienen der
realen Wirtschaft, mit 97, 5% des Weltumsatzes aber werden reine Spekulationsgeschäfte
abgewickelt!
„Wir
haben hier keine bleibende Stadt…“ nicht hier, auf dieser Welt, so, wie sie ist. Wir alle nicht!
„…die zukünftige suchen wir“ , jene ernsten, fragenden Gesichter lassen mich
aufbrechen, ich will mich auf den Weg machen und ihre kritischen Fragen nicht überhören.
Auch wenn sie schmerzhaft sind, weil sie mich so schonungslos genau da treffen,
wo ich mich ganz gut eingerichtet habe.
Wo ich mich bequem zurücklehne und die Welt draußen leicht aus dem Blick verliere.
„Wir haben hier keine bleibende Stadt,
sondern die zukünftige suchen wir.“
Es
ist die Suche nach dem, was Nachfolge wirklich heißt: „So lasst uns nun zu ihm -
zu Jesus - hinausgehen aus dem Lager,“ heißt es unmittelbar davor im Hebr-Brief.
Und meint einen radikalen Ortswechsel! Er weist nach „draußen vor dem Tor“, dorthin, wo Jesus gelitten
hat. Hinausgehen aus dem Lager, das ist: Vertrautes, Gewohntes, Liebgewonnenes hinter
mir lassen. Alte Denkmuster, Vorurteile aufgeben, aufbrechen und den Weg ins Neuland wagen…Bewegt von
dem Wanderprediger, der nichts hat, wo er sein Haupt hinlegen kann.
Damals
ist sie auch hinausgegangen, Heiligabend 1943, die Mutter des Künstlers Robert Koenig, aus dem Lager der Zwangsarbeiterinnen
bei Speyer ist sie ausgebrochen. Und hat zusammen mit anderen Häftlingen den gefährlichen
Weg zum Dom von Speyer gewagt. Die Christmette haben sie besucht. Gerade als
„Stille Nacht“ gesungen wird, öffnen sie die Türen des Doms. Sie werden
angestarrt, der Mesner will sie rausschmeißen . Aber die mutigen Frauen
bleiben, und der Mesner macht kehrt, weil er kein Aufsehen erregen will. Zwei
Welten prallen aufeinander: Hier die weihnachtliche Idylle, dort die
Zwangsarbeiterinnen – „Wir haben hier keine bleibende Stadt…“ .
„Hinausgehen aus dem Lager und seine
Schmach mittragen": Christus ist da, wo Menschen verfolgt und ausgegrenzt
werden, wo Menschen leiden und sterben. Draußen vor dem Tor, außerhalb aller
politischen, gesellschaftlichen und religiösen Lager.
Draußen
vor dem Tor, da stehen sie, die mahnenden Figuren, die Wächterinnen der
Erinnerung, und weisen mir den Weg
vor das Tor unserer Welt, vor das Tor unserer gut etablierten Gesellschaft, vor
das Tor des Wohlstands und des Konsums, vor das Tor der Festung Europa, vor das
Tor manch heiler Familienidylle, vor das Tor starrer religiöser Überzeugungen,
vor das Tor so mancher Zugehörigkeit, zu Menschen, die nicht dazugehören.
Und
plötzlich spüre ich deutlich, wie diese meine Odyssee, mein Suchen mit den Odysseen jener
anderen „draußen vor dem Tor“ zu tun hat.
„Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen
wir“ – Die Odyssey-Figuren zeichnen einen Weg….und dieser Weg setzt in Bewegung, führt hinaus vor so
viele Tore…
…auf
der Suche nach der zukunftsfähigen Stadt für alle Menschen. Bisher habe ich vielleicht
nur einen Ausschnitt von Leben kennengelernt, geschützt und wohlbehütet; vor
jenen vielen Toren aber begegnet mir die ganze Wirklichkeit, es begegnet uns
Christus selbst. „Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige
suchen wir.“
Im
Buch der Offenbarung ist das neue
Jerusalem das Bild für die zukünftige Stadt. Ein Ort, wo die Menschen in
Frieden und Gerechtigkeit beieinander leben. „Siehe da, die Hütte Gottes bei
den Menschen!" „Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk
sein, und er wird ihr Gott sein." Wo Gott bei uns wohnt – wie auch immer
wir uns Gott vorstellen - da hat unsere Odyssee ein Ende, und wir sind endlich angekommen.
Amen.
Sylvia Unzeitig: "Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen" - Zuflucht in der Fremde. Predigt zu Matthäus 2,13-15 und Hosea 11,1
„Ein umherirrender Aramäer war mein Vater“, so wird ein Israelit im 5.
Buch Mose (Dtn. 26,5) aufgefordert zu bekennen. Ihm soll bewusst sein, dass
sein Leben von Gott geführt ist, dass es über Berge und Täler zu einem guten
Ziel gelangt.
„Der Ewige hörte auf unser Rufen“, so heißt es dort, „und sah unser
Elend, und führte uns aus Ägypten weg mit starker Hand und ausgestrecktem
Arme, mit großen Schrecken, unter Zeichen und Wundertaten. Er brachte uns an
diesen Ort und gab uns dieses Land, ein Land, das von Milch und Honig
fließt.“
Das Los der Flucht, die Erfahrung der Heimatlosigkeit durchzieht die
Geschichten der Bibel. Da ist es wohl kein Wunder, dass selbst der Gottessohn
dieses Schicksal mit uns teilt. Ich lese aus dem Matthäusevangelium, Kapitel
2:
„Als sie (die Weisen) aber hinweggezogen waren, siehe, da erschien der
Engel des Herrn dem Josef im Traum und sprach: Steh auf, nimm das Kindlein und
seine Mutter mit dir und flieh nach Ägypten und bleib dort, bis ich dir's sage;
denn Herodes hat vor, das Kindlein zu suchen, um es umzubringen. Da stand
er auf und nahm das Kindlein und seine Mutter mit sich bei Nacht und entwich
nach Ägypten und blieb dort bis nach dem Tod des Herodes, damit erfüllt
würde, was der Herr durch den Propheten gesagt hat, der da spricht (Hosea
11,1): »Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen.«
Für viele Bibelkritiker ist diese Stelle ein gefundenes Fressen! Wie
wir in der Schriftlesung gehört haben, wendet sich Gott im Hoseabuch an sein
Volk Israel, das er vor langer Zeit aus Ägypten befreit hatte. Matthäus sieht
darin aber eine Verheißung auf Jesus hin. So wie er viele Textstellen aus dem
Alten Testament auf Jesus hin deutet. Es mag für manchen schief klingen, aber
für Matthäus, der Jesus als den lang verheißenen Messias sieht, passt alles.
Das haben viele Zweifler nicht begriffen: dass die Bibel kein
Tatsachenbericht sein will, sondern sie vielmehr Geschehnisse interpretiert.
So wissen wir z. B. auch, dass der Kindermord in Betlehem wahrscheinlich eine
Legende ist, weil er in anderen Quellen, die es über Herodes gibt, nirgends
belegt ist. Aber was gesichert ist, ist die Tatsache, dass Herodes ein grausamer
und machtbesessener Herrscher war, der über Leichen ging, auch über die seiner
Söhne, um seine Macht zu erhalten. Möglicherweise ist die Geschichte vom Kindermord
ein Nachhall auf die Schandtaten des Herodes.
Auch die Flucht nach Ägypten soll – laut Wissenschaft – nur eine Legende
sein, weil es ja vermutlich auch keinen Kindermord gegeben hat. Und trotzdem
gibt es in Ägypten zahlreiche Kirchen und Orte, die sich auf Ereignisse
beziehen, die auf der Flucht der Heiligen Familie in Ägypten geschehen sein
sollen. Nach Auffassung der Kopten, so nennen sich die ägyptischen Christen,
bereiste die heilige Familie das Land drei Jahre und elf Monate lang. Auf dem
Weg finden sich viele Stationen, Gedenkkirchen und Grotten, wo das Jesuskind
Halt gemacht haben soll - wie etwa eine Gedenkkirche in Mittelägypten, nicht
erbaut, sondern aus einem riesigen Felsblock heraus geschlagen. In einer
Grotte hat nach alten Berichten die Heilige Familie Quartier genommen. Heute
ist der Ort eine winzige Kapelle, geweiht der Mutter Jesu.
Als kritischer, aufgeklärter Mensch schüttelt man da den Kopf und fragt
sich, wie man das nur glauben kann, wo doch der Reiseweg im Evangelium nicht
einmal aufgeführt ist.
Doch es gibt eine Reihe von apokryphen Kindheitsevangelien, in denen
diese Lücke bei Matthäus ausgefüllt wird. So heißt es z. B. bei
„Pseudo-Matthäus“:
In der Begleitung Josefs waren drei Knaben und bei Maria ein Mädchen,
die die Reise mitmachten. Und siehe, plötzlich kamen aus der Höhle viele
Drachen, vor deren Anblick die Kinder vor bangem Entsetzen laut aufschrien.
Da stieg Jesus vom Schoß seiner Mutter herab und stellte sich vor den
Drachen auf seine Füße. Sie aber fielen huldigend vor ihm nieder, und nach
dieser Huldigung entfernten sie sich.
Man versteht nun, warum solche Texte nicht den Weg in den Kanon der
biblischen Schriften gefunden haben! Sie sind mit märchenhaften Zügen und
blumenreichen Details ausgeschmückt, so dass auch ein halbwegs gebildeter
Mensch versteht, dass hier nur im gewöhnlichen Gefühlsbereich gefischt wird.
Wie ist das aber nun mit den Texten der Kindheitsgeschichte im richtigen
Matthäus-Evangelium? Wie sind sie zu verstehen?
Die wunderbare Rettung des Jesuskindes weckt etliche Anklänge im Alten
Testament: da gibt es ein ähnliches Szenario bei der Geburt des Mose. Auch in
seiner Zeit wurden Kinder ihren Müttern weggenommen und von den ägyptischen
Soldaten getötet. Doch Mose entkam wie durch ein Wunder.
Gottes Botschaft wird dem Josef im Traum vermittelt, so wie auch der alttestamentliche
Josef Gott im Traum vernahm. Und es gibt Anklänge in der antiken Literatur, die
jetzt aber zu weit führen würden.
Analogien helfen uns, das Leben zu entschlüsseln. Indem Begebenheiten
auf ähnliche Weise schon einmal da gewesen sind, können wir Situationen
unseres Lebens besser verstehen und deuten. Das kann zwar wissenschaftlich
nicht nachgewiesen werden, aber das Herz versteht es trotzdem auf eine ganz
tief empfundene Weise.
Diese Wahrheit des Lebens spürt man vor allem, wenn das Leben bedroht
ist. Wie viele Geschichten gibt es vom Krieg und von der Flucht, wo die
Erzähler sich auf wundersame Weise gerettet fühlen. Es war vielleicht nur
eine Tabakdose in der Brusttasche, die den Schuss auf’s Herz abgewehrt hat. Zufall?
Oder der Soldat, der die aus Ostpreußen flüchtenden Frauen ermahnt, noch in
der gleichen Nacht die rettende Brücke über die Oder zu überqueren – da sie in
der nächsten Stunde gesprengt wird. So geheimnisvoll wie der Soldat
auftauchte, verschwand er auch wieder.
Wenn wir uns nicht in solch bedrohlicher Lage befinden, tun wir solche
Geschichten als Zufall ab - der
Verstand wehrt sich gegen Wunder. Denn der „gute Kamerad“ zu meiner Seite fiel
ja trotzdem.
Die Kinder auf der norwegischen Insel Utöya, die vor vier Jahren dem
Attentäter Anders Breivik zum Opfer fielen, hatten wohl auch keinen
Schutzengel? Und doch gab es auch die Überlebenden, die uns hinterher die
unglaublichsten Geschichten erzählen.
Wir können nur unser eigenes Leben beurteilen und fühlen. Wenn wir eine
Gesamtschau versuchen, wo dann alles ins rationale Bild passt, verlieren
wir die innere Stimme, die uns auf Gottes geheimnisvolles Wirken verweist.
Und davon reden die Geschichten der Bibel. Jakob spürt auf seiner Flucht
vor Esau, dass Gott da ist, er weiß nicht wie, und dass er trotz seines Betrugs
an Vater und Bruder von diesem Gott angenommen ist. Josef vertraut darauf, dass
alles gut wird, auch wenn er sich die Schwangerschaft Marias nicht erklären
kann. Auch die Hirten spüren, dass mit dem kleinen Kind in der ärmlichen Höhle
etwas Neues begonnen hat, das ihrem elenden Dasein Hoffnung und Glanz gibt. Und
ist dieses tiefe existenzielle Gefühl nicht bei der Geburt eines jeden Kindes
da? Diese völlig unbegründete Gewissheit, dass diese Welt ein gutes Ziel hat
trotz aller Bedrohung durch Terror und Kriege und die anhaltende Wirtschaftsungerechtigkeit
und Klimaveränderung?
Ja, der Messias kennt das von Anfang an: Bedrohung des Lebens, Flucht
und Entbehrung, das Leben der armen Leute, doch auch die andere Seite:
Solidarität der Weisen, Aufnahme in Ägypten, Gottes Schutz. Er teilt dieses
Leben in all seinen Aspekten mit uns – das wollte Matthäus uns Nachgeborenen
eindrücklich vor Augen stellen. Und wenn der Messias es zu einem guten Ende
gebracht hat, werden auch wir dies können, auch wenn es noch so viele
Entbehrungen geben sollte. So bekennen auch wir mit dem Israeliten:
„Mein Vater war ein umherirrender Aramäer und zog hinab nach Ägypten und
war dort ein Fremdling mit wenig Leuten und wurde dort ein großes, starkes und
zahlreiches Volk. Aber die Ägypter behandelten uns schlecht und bedrückten
uns und legten uns einen harten Dienst auf. Da schrien wir zu dem HERRN,
dem Gott unserer Väter. Und der HERR erhörte unser Schreien und sah unser Elend,
unsere Angst und Not und führte uns aus Ägypten mit mächtiger Hand und
ausgerecktem Arm und mit großem Schrecken, durch Zeichen und Wunder, und
brachte uns an diese Stätte und gab uns dies Land, darin Milch und Honig
fließt.
Nun bringe ich die Erstlinge der Früchte des Landes, das du, HERR, mir
gegeben hast. - Und du sollst sie niederlegen vor dem Herrn, deinem Gott, und
anbeten vor dem HERRN, deinem Gott, und sollst fröhlich sein über alles Gut,
das der HERR, dein Gott, dir und deinem Hause gegeben hat, du und der
Fremdling, der bei dir lebt.“
Freitag, 14. August 2015
Interview mit Robert Koenig
Die Stuttgarter Zeitung hat Robert Koenig zu seinen Erfahrungen in Nürtingen interviewt:
bitte hier entlang
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Donnerstag, 13. August 2015
Montag, 10. August 2015
Dienstag, 4. August 2015
Podcast: Die Roma - Europas Sündenböcke
Beim Podcast "Erscheinungsraum" haben Gastgeberin Katrin Rönike und Experte Philipp Rollin im Juni über die Geschichte der Diskriminierung der Roma vor allem in Osteuropa gesprochen - lang, aber sehr hörenswert:
http://erscheinungsraum.de/er032-die-roma-europas-suendenboecke/
http://erscheinungsraum.de/er032-die-roma-europas-suendenboecke/
Samstag, 1. August 2015
Bärbel Brückner-Walter: Rede zur Eröffnung der Ausstellung „Odyssey“ am 17.07.2015 in der Stadtkirche Nürtingen
Sehr
geehrte Frau Vizepräsidentin Lösch, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister
Heirich, sehr geehrte Frau Bürgermeisterin Grau; und vor allem sehr geehrter Herr
Koenig, sehr geehrte Damen und Herren,
von
alters her sind Kirchen Orte der Zuflucht, und so ist die Wahl der Nürtinger
Stadtkirche als Ort zur Eröffnung von „Odyssey“ durchaus angemessen – und stimmig
für den Künstler Robert Koenig und seine Skulpturen. Auf einzigartige Weise kommen mit Odyssey die Themen Flucht, Vertreibung
und Heimatlosigkeit hier in unsere Stadt.
Und
knüpfen an Erfahrungen an: Odysseen kennen wohl die meisten von uns auf irgendeine Art und Weise, nicht
wenige haben selbst solches erlebt: durch den 2. Weltkrieg und die Jahre danach,
durch Migration verschiedenster Art.
Besonders
gegenwärtig sind solche Erfahrungen für diejenigen unter uns, die erst vor
kurzem hier in Nürtingen als Flüchtlinge angekommen sind, - schön, dass einige
von Ihnen heute auch hier sind – ich sehe auch viele von denen, die sich in der
Arbeit mit Flüchtlingen hier in unserer Stadt engagieren! - Ja, viele von ihnen
haben tatsächlich eine lange Odyssee von Not und Leid hinter sich, viele kommen
aus Kriegs- und Krisenregionen, auf der Suche nach einem guten Leben.
Und
– um noch einmal den Blick in die Vergangenheit zu lenken - auch hier in
Nürtingen sind Menschen auf erschütternde Art und Weise zu Opfern des Nationalsozialismus
geworden – wir verdanken es u.a.
der hervorragenden Aufarbeitung der Nürtinger Gedenkinitiative NS-Opfer, die
uns die Lebens- und Leidensgeschichten Nürtinger Bürgerinnen und Bürger aus
dieser Zeit zugänglich macht.
So
bringen wir alle ganz Unterschiedliches
mit, und jeder/ jede wird die
Figuren von Robert Koenig anders anschauen. Für manche wirken sie vielleicht
gar verstörend, andere wiederum könnten so von ihnen berührt werden, dass die eigenen
Odysseen wieder ganz präsent sind. Die öffentlich aufgestellten Figuren fordern
geradezu heraus zu lebendigen und berührenden Begegnungen. Zu Begegnungen mit der
eigenen Geschichte und der anderer, wenn sich eine bunte Vielfalt von ganz unterschiedlichen Menschen
einlässt auf das Thema Flucht, Vertreibung und Heimatlosigkeit.
Die
Vielfalt in der Zusammensetzung der Gruppen und Institutionen, die das Projekt
„Odyssey“ hier in Nürtingen vorbereitet haben und dafür Verantwortung tragen,
war eine besondere Herausforderung – und ich habe diesen Prozess als sehr konstruktiv erlebt. Und ich
glaube sagen zu dürfen: wir sind alle auch ein wenig stolz darauf, dass wir es
mit vereinten Kräften geschafft haben, Sie, lieber Robert Koenig, und Ihre
Skulpturen hier in unserer Stadt willkommen zu heißen!
Ich
spreche heute hier für die Evangelische Gesamtkirchengemeinde und für die
Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Nürtingen. Flucht und Vertreibung, Fremdsein, aber
auch Befreiung aus Not und Unterdrückung – das sind auch zentrale Themen der
Bibel. Begleitend zur Ausstellung werden sie auf den Kanzeln der evangelischen
Kirchen Nürtingens in der Sommerpredigtreihe aufgegriffen. Die Bibel ist voll
von Erzählungen über Wege und Irrwege, Wege durch die Wüste, durch Not und
Entbehrung; voller Sehnsucht, aber auch voller Hoffnung und dabei getragen und
begleitet von diesem Gott, der mitgeht und mitleidet. Nicht nur einmal ist das
Volk Israel auf der Flucht – damals aus der Sklaverei in Ägypten. Die ganze jüdisch-christliche
Tradition ist voller Aufbrüche, und sie birgt eine Fülle von Schicksalen
einzelner Menschen auf der Flucht: der Biblische Jakob zum Beispiel flieht vor der
eigenen Schuld, Jona aus Angst vor einem viel zu großen Auftrag. Und Jesus ist
schon als kleines Kind mit seinen Eltern auf der Flucht; später weiß er nicht,
wo er sein Haupt hinlegen kann. Heimatlosigkeit allenthalben, „…wir haben hier
keine bleibende Stadt…“ weiß der Hebräerbrief am Ende des neuen Testamentes. Und
dann eben auch dies: eine Offenheit und Freundlichkeit gegenüber denen, die
fremd sind oder auf der Flucht, „den Fremden sollst du nicht bedrücken...denn
ihr seid selbst Fremdlinge gewesen in Ägyptenland…“ in den Büchern Mose, und: „Gastfrei
zu sein vergesst nicht; denn dadurch haben einige ohne ihr Wissen Engel
beherbergt.“ Im Hebräer-Brief.
Das
sind Grundzüge des jüdisch-christlichen Erbes, die es zu bewahren und immer
wieder neu zu aktualisieren, zu leben gilt. Überall auf der Welt, und erst
recht in unserem Land mit seiner dunklen
Geschichte: Christen haben hier große Schuld auf sich geladen und dieses jüdisch-christliche
Erbe verraten überall da, wo sie bei dem zum Himmel schreienden Unrecht geschwiegen oder – noch
schlimmer - mitgemacht haben.
So
begrüße ich im Namen der verschiedenen christlichen Konfessionen Nürtingens die
Figuren als Wächter der Erinnerung mit dem alten biblischen Friedensgruß „Shalom“!
Ja, es dient dem Frieden, wie
Robert Koenig weit über das Erinnern
an die persönliche Familiengeschichte hinaus das Thema Odyssey be-arbeitet. Und
wir dürfen alle gespannt sein auf seine
Arbeit an der Nürtinger Figur! So wie ich Robert Koenig kennengelernt habe,
begreift er seine künstlerische Arbeit als einen lebendigen Prozess vor Ort und
lädt uns alle ein, hierbei mitzuwirken.
Geben wir also den 44 Odyssey-Figuren und der hier entstehenden 45. Nürtinger
Figur Raum in unserer Stadt, in unserer
Gesellschaft und in unserem eigenen Denken und Handeln -als Wächterinnen
und Wächter der Erinnerung!
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