von
alters her sind Kirchen Orte der Zuflucht, und so ist die Wahl der Nürtinger
Stadtkirche als Ort zur Eröffnung von „Odyssey“ durchaus angemessen – und stimmig
für den Künstler Robert Koenig und seine Skulpturen. Auf einzigartige Weise kommen mit Odyssey die Themen Flucht, Vertreibung
und Heimatlosigkeit hier in unsere Stadt.
Und
knüpfen an Erfahrungen an: Odysseen kennen wohl die meisten von uns auf irgendeine Art und Weise, nicht
wenige haben selbst solches erlebt: durch den 2. Weltkrieg und die Jahre danach,
durch Migration verschiedenster Art.
Besonders
gegenwärtig sind solche Erfahrungen für diejenigen unter uns, die erst vor
kurzem hier in Nürtingen als Flüchtlinge angekommen sind, - schön, dass einige
von Ihnen heute auch hier sind – ich sehe auch viele von denen, die sich in der
Arbeit mit Flüchtlingen hier in unserer Stadt engagieren! - Ja, viele von ihnen
haben tatsächlich eine lange Odyssee von Not und Leid hinter sich, viele kommen
aus Kriegs- und Krisenregionen, auf der Suche nach einem guten Leben.
Und
– um noch einmal den Blick in die Vergangenheit zu lenken - auch hier in
Nürtingen sind Menschen auf erschütternde Art und Weise zu Opfern des Nationalsozialismus
geworden – wir verdanken es u.a.
der hervorragenden Aufarbeitung der Nürtinger Gedenkinitiative NS-Opfer, die
uns die Lebens- und Leidensgeschichten Nürtinger Bürgerinnen und Bürger aus
dieser Zeit zugänglich macht.
So
bringen wir alle ganz Unterschiedliches
mit, und jeder/ jede wird die
Figuren von Robert Koenig anders anschauen. Für manche wirken sie vielleicht
gar verstörend, andere wiederum könnten so von ihnen berührt werden, dass die eigenen
Odysseen wieder ganz präsent sind. Die öffentlich aufgestellten Figuren fordern
geradezu heraus zu lebendigen und berührenden Begegnungen. Zu Begegnungen mit der
eigenen Geschichte und der anderer, wenn sich eine bunte Vielfalt von ganz unterschiedlichen Menschen
einlässt auf das Thema Flucht, Vertreibung und Heimatlosigkeit.
Die
Vielfalt in der Zusammensetzung der Gruppen und Institutionen, die das Projekt
„Odyssey“ hier in Nürtingen vorbereitet haben und dafür Verantwortung tragen,
war eine besondere Herausforderung – und ich habe diesen Prozess als sehr konstruktiv erlebt. Und ich
glaube sagen zu dürfen: wir sind alle auch ein wenig stolz darauf, dass wir es
mit vereinten Kräften geschafft haben, Sie, lieber Robert Koenig, und Ihre
Skulpturen hier in unserer Stadt willkommen zu heißen!
Ich
spreche heute hier für die Evangelische Gesamtkirchengemeinde und für die
Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Nürtingen. Flucht und Vertreibung, Fremdsein, aber
auch Befreiung aus Not und Unterdrückung – das sind auch zentrale Themen der
Bibel. Begleitend zur Ausstellung werden sie auf den Kanzeln der evangelischen
Kirchen Nürtingens in der Sommerpredigtreihe aufgegriffen. Die Bibel ist voll
von Erzählungen über Wege und Irrwege, Wege durch die Wüste, durch Not und
Entbehrung; voller Sehnsucht, aber auch voller Hoffnung und dabei getragen und
begleitet von diesem Gott, der mitgeht und mitleidet. Nicht nur einmal ist das
Volk Israel auf der Flucht – damals aus der Sklaverei in Ägypten. Die ganze jüdisch-christliche
Tradition ist voller Aufbrüche, und sie birgt eine Fülle von Schicksalen
einzelner Menschen auf der Flucht: der Biblische Jakob zum Beispiel flieht vor der
eigenen Schuld, Jona aus Angst vor einem viel zu großen Auftrag. Und Jesus ist
schon als kleines Kind mit seinen Eltern auf der Flucht; später weiß er nicht,
wo er sein Haupt hinlegen kann. Heimatlosigkeit allenthalben, „…wir haben hier
keine bleibende Stadt…“ weiß der Hebräerbrief am Ende des neuen Testamentes. Und
dann eben auch dies: eine Offenheit und Freundlichkeit gegenüber denen, die
fremd sind oder auf der Flucht, „den Fremden sollst du nicht bedrücken...denn
ihr seid selbst Fremdlinge gewesen in Ägyptenland…“ in den Büchern Mose, und: „Gastfrei
zu sein vergesst nicht; denn dadurch haben einige ohne ihr Wissen Engel
beherbergt.“ Im Hebräer-Brief.
Das
sind Grundzüge des jüdisch-christlichen Erbes, die es zu bewahren und immer
wieder neu zu aktualisieren, zu leben gilt. Überall auf der Welt, und erst
recht in unserem Land mit seiner dunklen
Geschichte: Christen haben hier große Schuld auf sich geladen und dieses jüdisch-christliche
Erbe verraten überall da, wo sie bei dem zum Himmel schreienden Unrecht geschwiegen oder – noch
schlimmer - mitgemacht haben.
So
begrüße ich im Namen der verschiedenen christlichen Konfessionen Nürtingens die
Figuren als Wächter der Erinnerung mit dem alten biblischen Friedensgruß „Shalom“!
Ja, es dient dem Frieden, wie
Robert Koenig weit über das Erinnern
an die persönliche Familiengeschichte hinaus das Thema Odyssey be-arbeitet. Und
wir dürfen alle gespannt sein auf seine
Arbeit an der Nürtinger Figur! So wie ich Robert Koenig kennengelernt habe,
begreift er seine künstlerische Arbeit als einen lebendigen Prozess vor Ort und
lädt uns alle ein, hierbei mitzuwirken.
Geben wir also den 44 Odyssey-Figuren und der hier entstehenden 45. Nürtinger
Figur Raum in unserer Stadt, in unserer
Gesellschaft und in unserem eigenen Denken und Handeln -als Wächterinnen
und Wächter der Erinnerung!
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