Samstag, 1. August 2015

Bärbel Brückner-Walter: Rede zur Eröffnung der Ausstellung „Odyssey“ am 17.07.2015 in der Stadtkirche Nürtingen

Sehr geehrte Frau Vizepräsidentin Lösch, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Heirich, sehr geehrte Frau Bürgermeisterin Grau; und vor allem sehr geehrter Herr Koenig, sehr geehrte Damen und Herren,

von alters her sind Kirchen Orte der Zuflucht, und so ist die Wahl der Nürtinger Stadtkirche als Ort zur Eröffnung von „Odyssey“ durchaus angemessen – und stimmig für den Künstler Robert Koenig und seine Skulpturen.  Auf einzigartige Weise kommen mit Odyssey die Themen Flucht, Vertreibung und Heimatlosigkeit hier in unsere Stadt.

Und knüpfen an Erfahrungen an: Odysseen kennen wohl  die meisten von uns auf irgendeine Art und Weise, nicht wenige haben selbst solches erlebt: durch den 2. Weltkrieg und die Jahre danach, durch Migration verschiedenster Art.

Besonders gegenwärtig sind solche Erfahrungen für diejenigen unter uns, die erst vor kurzem hier in Nürtingen als Flüchtlinge angekommen sind, - schön, dass einige von Ihnen heute auch hier sind – ich sehe auch viele von denen, die sich in der Arbeit mit Flüchtlingen hier in unserer Stadt engagieren! - Ja, viele von ihnen haben tatsächlich eine lange Odyssee von Not und Leid hinter sich, viele kommen aus Kriegs- und Krisenregionen, auf der Suche nach einem guten Leben.

Und – um noch einmal den Blick in die Vergangenheit zu lenken - auch hier in Nürtingen sind Menschen auf erschütternde Art und Weise zu Opfern des Nationalsozialismus geworden –  wir verdanken es u.a. der hervorragenden Aufarbeitung der Nürtinger Gedenkinitiative NS-Opfer, die uns die Lebens- und Leidensgeschichten Nürtinger Bürgerinnen und Bürger aus dieser Zeit zugänglich macht.

So bringen wir alle ganz Unterschiedliches  mit, und jeder/ jede  wird die Figuren von Robert Koenig anders anschauen. Für manche wirken sie vielleicht gar verstörend, andere wiederum könnten so von ihnen berührt werden, dass die eigenen Odysseen wieder ganz präsent sind. Die öffentlich aufgestellten Figuren fordern geradezu heraus zu lebendigen und berührenden Begegnungen. Zu Begegnungen mit der eigenen Geschichte und der anderer, wenn  sich eine bunte Vielfalt von ganz unterschiedlichen Menschen einlässt auf das Thema Flucht, Vertreibung und Heimatlosigkeit. 

Die Vielfalt in der Zusammensetzung der Gruppen und Institutionen, die das Projekt „Odyssey“ hier in Nürtingen vorbereitet haben und dafür Verantwortung tragen, war eine besondere Herausforderung – und ich habe diesen Prozess  als sehr konstruktiv erlebt. Und ich glaube sagen zu dürfen: wir sind alle auch ein wenig stolz darauf, dass wir es mit vereinten Kräften geschafft haben, Sie, lieber Robert Koenig, und Ihre Skulpturen hier in unserer Stadt willkommen zu heißen!

Ich spreche heute hier für die Evangelische Gesamtkirchengemeinde und für die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Nürtingen.  Flucht und Vertreibung, Fremdsein, aber auch Befreiung aus Not und Unterdrückung – das sind auch zentrale Themen der Bibel. Begleitend zur Ausstellung werden sie auf den Kanzeln der evangelischen Kirchen Nürtingens in der Sommerpredigtreihe aufgegriffen. Die Bibel ist voll von Erzählungen über Wege und Irrwege, Wege durch die Wüste, durch Not und Entbehrung; voller Sehnsucht, aber auch voller Hoffnung und dabei getragen und begleitet von diesem Gott, der mitgeht und mitleidet. Nicht nur einmal ist das Volk Israel auf der Flucht – damals aus der Sklaverei in Ägypten. Die ganze jüdisch-christliche Tradition ist voller Aufbrüche, und sie birgt eine Fülle von Schicksalen einzelner Menschen auf der Flucht: der Biblische Jakob zum Beispiel flieht vor der eigenen Schuld, Jona aus Angst vor einem viel zu großen Auftrag. Und Jesus ist schon als kleines Kind mit seinen Eltern auf der Flucht; später weiß er nicht, wo er sein Haupt hinlegen kann. Heimatlosigkeit allenthalben, „…wir haben hier keine bleibende Stadt…“ weiß der Hebräerbrief am Ende des neuen Testamentes. Und dann eben auch dies: eine Offenheit und Freundlichkeit gegenüber denen, die fremd sind oder auf der Flucht, „den Fremden sollst du nicht bedrücken...denn ihr seid selbst Fremdlinge gewesen in Ägyptenland…“ in den Büchern Mose, und: „Gastfrei zu sein vergesst nicht; denn dadurch haben einige ohne ihr Wissen Engel beherbergt.“ Im Hebräer-Brief.

Das sind Grundzüge des jüdisch-christlichen Erbes, die es zu bewahren und immer wieder neu zu aktualisieren, zu leben gilt. Überall auf der Welt, und erst recht  in unserem Land mit seiner dunklen Geschichte: Christen haben hier große Schuld auf sich geladen und dieses jüdisch-christliche Erbe verraten überall da, wo sie bei dem zum Himmel schreienden  Unrecht geschwiegen oder – noch schlimmer - mitgemacht haben.

So begrüße ich im Namen der verschiedenen christlichen Konfessionen Nürtingens die Figuren als Wächter der Erinnerung mit dem alten biblischen Friedensgruß „Shalom“! Ja, es dient dem Frieden,  wie Robert Koenig  weit über das Erinnern an die persönliche Familiengeschichte hinaus das Thema Odyssey be-arbeitet. Und wir dürfen alle gespannt sein auf  seine Arbeit an der Nürtinger Figur! So wie ich Robert Koenig kennengelernt habe, begreift er seine künstlerische Arbeit als einen lebendigen Prozess vor Ort und lädt uns alle ein, hierbei  mitzuwirken. Geben wir also den 44 Odyssey-Figuren und der hier entstehenden 45. Nürtinger Figur Raum in unserer Stadt, in unserer  Gesellschaft und in unserem eigenen Denken und Handeln -als Wächterinnen und Wächter der Erinnerung!

Denn – um mit Ernst Bloch zu sprechen -  „Die Wurzel der Geschichte (aber) ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. …so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat."          Vielen Dank!

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