Liebe
Gemeinde,
Odyssey
- Abschied und Verlust, Not und Leid durch Vertreibung. Fremdsein hier im
Deutschland der Naziherrschaft, Internierung und Zwangsarbeit, Angst und
Schrecken in den Jahren nach dem Krieg –
Irrwege auf der Suche nach Leben. Mit seinen Figuren zeichnet der Künstler
Robert Koenig einen Weg, er
beginnt in der polnischen Heimat seiner Familie und führt schließlich
auch nach Deutschland. Immer mehr Figuren kommen dazu: von Polen bis hierher
nach Nürtingen sind es schließlich 44 Wächterinnen und Wächter der Erinnerung.
„Wir haben hier keine bleibende Stadt,
sondern die zukünftige suchen wir“
- heißt es im Hebräer-Brief.
Da
stehen sie – wie Fremde. Manche
starren mich so seltsam an; fordern mich heraus – und ich versuche
vorsichtig, mich ihnen zu nähern. Wenn ich sie so anschaue, komme ich ins Nachdenken, über
meinen eigenen Lebensweg, über den anderer Menschen. Und kann hinter jeder der 44 Odyssey- Figuren Schicksale erahnen: Schicksale von
Flucht und Vertreibung, von Heimatlosigkeit und der Suche nach einem Ort, wo es
sich leben lässt. Schicksale aus der Zeit des Nationalsozialismus
und der Jahre danach, bis in unsere Gegenwart hinein – Schicksale von Flucht,
von Migration, von Umherirren. Manche von uns haben das ja am eigenen Leib erfahren, damals nach dem Krieg, oder auch später,
als sog. Gastarbeiter/innen. Oder als Spätaussiedler, und heute als
Flüchtlinge „Wir haben hier keine
bleibende Stadt…“ es ist die bittere Erfahrung von Menschen, die alles hinter
sich gelassen haben – damals wie heute. Es ist die Geschichte meiner Eltern. - Und
manche Begegnungen in meiner Gemeinde haben sich tief in mein
Gedächtnis eingeprägt: Mit Menschen aus Russland, aus der Ukraine, aus
Kasachstan; sie haben mir erzählt, wie sie nach Deutschland gekommen sind und unter großen Mühen eine neue Existenz
aufgebaut haben. Welch lange Wege haben sie zurückgelegt, mit wie viel Umwegen,
bis sie endlich angekommen sind.
Und
dann die bewegende Schilderung jenes afghanischen Flüchtlings in einem
Gottesdienst in der Lutherkirche - ganz offen hat er von seiner Flucht
gesprochen–und so, dass es allen unter die Haut ging.
„Wir
haben hier keine bleibende Stadt…“ das könnten sie auch sagen, die
„Wächterinnen und Wächter der Erinnerung“ – der Erinnerung an die, die nicht
mehr da sind. Und an die, die heute fliehen:
Weil
Terror, Krieg und Not das Leben so vieler Menschen zur Hölle machen! Wo
Menschen ihre Meinung nicht mehr frei äußern dürfen, ihre Religion nicht mehr offen leben können, nicht wissen,
wie sie über die Runden kommen sollen und um ihr Leben bangen. Flucht als letzter
Ausweg - das trifft heute weltweit so viele Menschen wie noch nie.
„Wir haben hier keine bleibende Stadt,
sondern die zukünftige suchen wir.“ Flucht und Vertreibung hautnah – den Odyssey-Figuren kann ich
mich schwer entziehen. Hinter den ernsten Gesichtern spüre ich bohrende Fragen:
Wie begegnest du den Fremden in deiner Stadt? Was hast du zu sagen, wenn
Flüchtlingsunterkünfte in deinem Land in Flammen aufgehen?
Die
bedrängenden Fragen unserer Zeit lassen mir keine Ruhe. Die Krisen dieser Welt haben mich,
haben uns alle hier längst eingeholt:
Odyssen - und die Suche nach dem, was wirklich trägt, in einer Zeit der
Verunsicherung.
„Wir
haben hier keine bleibende Stadt,
sondern die zukünftige suchen wir“ – das heißt für mich auch:
Ich
will mich nicht zufrieden geben mit dem, was ich von Wirtschaftsexperten
erfahre – zum Beispiel durch solche Meldungen wie diese über die riesigen
Kapitalflüsse rund um den Erdball: ganze 2 Euro 50 von Hundert dienen der
realen Wirtschaft, mit 97, 5% des Weltumsatzes aber werden reine Spekulationsgeschäfte
abgewickelt!
„Wir
haben hier keine bleibende Stadt…“ nicht hier, auf dieser Welt, so, wie sie ist. Wir alle nicht!
„…die zukünftige suchen wir“ , jene ernsten, fragenden Gesichter lassen mich
aufbrechen, ich will mich auf den Weg machen und ihre kritischen Fragen nicht überhören.
Auch wenn sie schmerzhaft sind, weil sie mich so schonungslos genau da treffen,
wo ich mich ganz gut eingerichtet habe.
Wo ich mich bequem zurücklehne und die Welt draußen leicht aus dem Blick verliere.
„Wir haben hier keine bleibende Stadt,
sondern die zukünftige suchen wir.“
Es
ist die Suche nach dem, was Nachfolge wirklich heißt: „So lasst uns nun zu ihm -
zu Jesus - hinausgehen aus dem Lager,“ heißt es unmittelbar davor im Hebr-Brief.
Und meint einen radikalen Ortswechsel! Er weist nach „draußen vor dem Tor“, dorthin, wo Jesus gelitten
hat. Hinausgehen aus dem Lager, das ist: Vertrautes, Gewohntes, Liebgewonnenes hinter
mir lassen. Alte Denkmuster, Vorurteile aufgeben, aufbrechen und den Weg ins Neuland wagen…Bewegt von
dem Wanderprediger, der nichts hat, wo er sein Haupt hinlegen kann.
Damals
ist sie auch hinausgegangen, Heiligabend 1943, die Mutter des Künstlers Robert Koenig, aus dem Lager der Zwangsarbeiterinnen
bei Speyer ist sie ausgebrochen. Und hat zusammen mit anderen Häftlingen den gefährlichen
Weg zum Dom von Speyer gewagt. Die Christmette haben sie besucht. Gerade als
„Stille Nacht“ gesungen wird, öffnen sie die Türen des Doms. Sie werden
angestarrt, der Mesner will sie rausschmeißen . Aber die mutigen Frauen
bleiben, und der Mesner macht kehrt, weil er kein Aufsehen erregen will. Zwei
Welten prallen aufeinander: Hier die weihnachtliche Idylle, dort die
Zwangsarbeiterinnen – „Wir haben hier keine bleibende Stadt…“ .
„Hinausgehen aus dem Lager und seine
Schmach mittragen": Christus ist da, wo Menschen verfolgt und ausgegrenzt
werden, wo Menschen leiden und sterben. Draußen vor dem Tor, außerhalb aller
politischen, gesellschaftlichen und religiösen Lager.
Draußen
vor dem Tor, da stehen sie, die mahnenden Figuren, die Wächterinnen der
Erinnerung, und weisen mir den Weg
vor das Tor unserer Welt, vor das Tor unserer gut etablierten Gesellschaft, vor
das Tor des Wohlstands und des Konsums, vor das Tor der Festung Europa, vor das
Tor manch heiler Familienidylle, vor das Tor starrer religiöser Überzeugungen,
vor das Tor so mancher Zugehörigkeit, zu Menschen, die nicht dazugehören.
Und
plötzlich spüre ich deutlich, wie diese meine Odyssee, mein Suchen mit den Odysseen jener
anderen „draußen vor dem Tor“ zu tun hat.
„Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen
wir“ – Die Odyssey-Figuren zeichnen einen Weg….und dieser Weg setzt in Bewegung, führt hinaus vor so
viele Tore…
…auf
der Suche nach der zukunftsfähigen Stadt für alle Menschen. Bisher habe ich vielleicht
nur einen Ausschnitt von Leben kennengelernt, geschützt und wohlbehütet; vor
jenen vielen Toren aber begegnet mir die ganze Wirklichkeit, es begegnet uns
Christus selbst. „Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige
suchen wir.“
Im
Buch der Offenbarung ist das neue
Jerusalem das Bild für die zukünftige Stadt. Ein Ort, wo die Menschen in
Frieden und Gerechtigkeit beieinander leben. „Siehe da, die Hütte Gottes bei
den Menschen!" „Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk
sein, und er wird ihr Gott sein." Wo Gott bei uns wohnt – wie auch immer
wir uns Gott vorstellen - da hat unsere Odyssee ein Ende, und wir sind endlich angekommen.
Amen.
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