Montag, 17. August 2015

Bärbel Brückner-Walter: "Wir haben hier keine bleibende Stadt" - Predigt zu Hebräer 13,14


Liebe Gemeinde,
Odyssey - Abschied und Verlust, Not und Leid durch Vertreibung. Fremdsein hier im Deutschland der Naziherrschaft, Internierung und Zwangsarbeit, Angst und Schrecken in den Jahren nach dem Krieg –  Irrwege auf der Suche nach Leben. Mit seinen Figuren zeichnet der Künstler Robert Koenig einen Weg, er  beginnt in der polnischen Heimat seiner Familie und führt schließlich auch nach Deutschland. Immer mehr Figuren kommen dazu: von Polen bis hierher nach Nürtingen sind es schließlich 44 Wächterinnen und Wächter der Erinnerung.
 „Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir“  - heißt es im Hebräer-Brief.
Da stehen sie – wie Fremde. Manche  starren mich so seltsam an; fordern mich heraus – und ich versuche vorsichtig, mich ihnen zu nähern.  Wenn ich sie so anschaue, komme ich ins Nachdenken, über meinen eigenen Lebensweg, über den anderer Menschen.  Und kann hinter jeder der 44 Odyssey- Figuren  Schicksale erahnen: Schicksale von Flucht und Vertreibung, von Heimatlosigkeit und der Suche nach einem Ort, wo es sich leben lässt. Schicksale aus der Zeit des Nationalsozialismus und der Jahre danach, bis in unsere Gegenwart hinein – Schicksale von Flucht, von Migration, von Umherirren. Manche von uns haben das ja am eigenen Leib erfahren,  damals nach dem Krieg, oder auch später, als sog. Gastarbeiter/innen. Oder als Spätaussiedler, und heute als Flüchtlinge  „Wir haben hier keine bleibende Stadt…“ es ist die bittere Erfahrung von Menschen, die alles hinter sich gelassen haben – damals wie heute. Es ist die Geschichte meiner Eltern. - Und manche Begegnungen  in meiner  Gemeinde haben sich tief in mein Gedächtnis eingeprägt: Mit Menschen aus Russland, aus der Ukraine, aus Kasachstan; sie haben mir erzählt, wie sie nach Deutschland gekommen sind und  unter großen Mühen eine neue Existenz aufgebaut haben. Welch lange Wege haben sie zurückgelegt, mit wie viel Umwegen, bis sie endlich angekommen sind.
Und dann die bewegende Schilderung jenes afghanischen Flüchtlings in einem Gottesdienst in der Lutherkirche - ganz offen hat er von seiner Flucht gesprochen–und so, dass es allen unter die Haut ging.
„Wir haben hier keine bleibende Stadt…“ das könnten sie auch sagen, die „Wächterinnen und Wächter der Erinnerung“ – der Erinnerung an die, die nicht mehr da sind. Und an die, die heute fliehen:  
Weil Terror, Krieg und Not das Leben so vieler Menschen zur Hölle machen! Wo Menschen ihre Meinung nicht mehr frei äußern dürfen,  ihre Religion nicht mehr offen leben können, nicht wissen, wie sie über die Runden kommen sollen und um ihr Leben bangen. Flucht als letzter Ausweg - das trifft heute weltweit so viele Menschen wie noch nie.  
 „Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“  Flucht und Vertreibung hautnah – den Odyssey-Figuren kann ich mich schwer entziehen. Hinter den ernsten Gesichtern spüre ich bohrende Fragen: Wie begegnest du den Fremden in deiner Stadt? Was hast du zu sagen, wenn Flüchtlingsunterkünfte in deinem Land in Flammen aufgehen?
Die bedrängenden Fragen unserer Zeit lassen mir keine Ruhe.  Die Krisen dieser Welt haben mich, haben  uns alle hier längst eingeholt: Odyssen - und die Suche nach dem, was wirklich trägt, in einer Zeit der Verunsicherung.
„Wir haben hier keine bleibende  Stadt, sondern die zukünftige suchen wir“ – das heißt für mich auch:
Ich will mich nicht zufrieden geben mit dem, was ich von Wirtschaftsexperten erfahre – zum Beispiel durch solche Meldungen wie diese über die riesigen Kapitalflüsse rund um den Erdball: ganze 2 Euro 50 von Hundert dienen der realen Wirtschaft, mit 97, 5% des Weltumsatzes aber werden reine Spekulationsgeschäfte abgewickelt!
„Wir haben hier keine bleibende Stadt…“  nicht hier, auf dieser Welt, so, wie sie ist. Wir alle nicht! „…die zukünftige suchen wir“ , jene ernsten, fragenden Gesichter lassen mich aufbrechen, ich will mich auf den Weg machen und ihre kritischen Fragen nicht überhören. Auch wenn sie schmerzhaft sind, weil sie mich so schonungslos genau da treffen, wo ich mich ganz gut eingerichtet habe.  Wo ich mich bequem zurücklehne  und die Welt draußen leicht aus dem Blick verliere.
 „Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“
Es ist die Suche nach dem, was Nachfolge wirklich heißt: „So lasst uns nun zu ihm - zu Jesus - hinausgehen aus dem Lager,“ heißt es unmittelbar davor im Hebr-Brief. Und meint einen radikalen  Ortswechsel! Er  weist nach „draußen vor dem Tor“, dorthin, wo Jesus gelitten hat. Hinausgehen aus dem Lager, das ist: Vertrautes, Gewohntes, Liebgewonnenes hinter mir lassen. Alte Denkmuster, Vorurteile aufgeben, aufbrechen  und den Weg ins Neuland wagen…Bewegt von dem Wanderprediger, der nichts hat, wo er sein Haupt hinlegen kann.
Damals ist sie auch hinausgegangen, Heiligabend 1943,  die Mutter des Künstlers Robert Koenig,  aus dem Lager der Zwangsarbeiterinnen bei Speyer ist sie ausgebrochen. Und hat zusammen mit anderen Häftlingen den gefährlichen Weg zum Dom von Speyer gewagt. Die Christmette haben sie besucht. Gerade als „Stille Nacht“ gesungen wird, öffnen sie die Türen des Doms. Sie werden angestarrt, der Mesner will sie rausschmeißen . Aber die mutigen Frauen bleiben, und der Mesner macht kehrt, weil er kein Aufsehen erregen will. Zwei Welten prallen aufeinander: Hier die weihnachtliche Idylle, dort die Zwangsarbeiterinnen – „Wir haben hier keine bleibende Stadt…“ .
 „Hinausgehen aus dem Lager und seine Schmach mittragen": Christus ist da, wo Menschen verfolgt und ausgegrenzt werden, wo Menschen leiden und sterben. Draußen vor dem Tor, außerhalb aller politischen,  gesellschaftlichen  und religiösen Lager.
Draußen vor dem Tor, da stehen sie, die mahnenden Figuren, die Wächterinnen der Erinnerung, und  weisen mir den Weg vor das Tor unserer Welt, vor das Tor unserer gut etablierten Gesellschaft, vor das Tor des Wohlstands und des Konsums, vor das Tor der Festung Europa, vor das Tor manch heiler Familienidylle, vor das Tor starrer religiöser Überzeugungen, vor das Tor so mancher Zugehörigkeit, zu Menschen, die nicht dazugehören.
Und plötzlich spüre ich deutlich, wie diese meine Odyssee,  mein Suchen mit den Odysseen jener anderen „draußen vor dem Tor“ zu tun hat.  „Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir“ – Die Odyssey-Figuren zeichnen einen Weg….und dieser Weg  setzt in Bewegung, führt hinaus vor so viele Tore… 
…auf der Suche nach der zukunftsfähigen Stadt für alle Menschen. Bisher habe ich vielleicht nur einen Ausschnitt von Leben kennengelernt, geschützt und wohlbehütet; vor jenen vielen Toren aber begegnet mir die ganze Wirklichkeit, es begegnet uns Christus selbst. „Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“  
Im Buch der Offenbarung  ist das neue Jerusalem das Bild für die zukünftige Stadt. Ein Ort, wo die Menschen in Frieden und Gerechtigkeit beieinander leben. „Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen!" „Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein, und er wird ihr Gott sein." Wo Gott bei uns wohnt – wie auch immer wir uns Gott vorstellen - da hat unsere Odyssee ein Ende, und wir  sind endlich angekommen. 
Amen.

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