Donnerstag, 27. August 2015

Jakob Fuchs: "Wie ein Sperling verflattert aus seinem Nest" - Predigt zu Sprüche 27,8

Liebe Gemeinde,
vorgestern piepste es. Direkt vor mir und von ganz unten.

Ich war gerade aus der Haustür gekommen und um die Ecke gebogen und meine Fußsspitze hätte das kugelrunde Federbüschel, das sich da auf dem Boden befand, aus Unachtsamkeit beinahe in hohem Bogen in die Luft befördert, würde da nicht gerade der Versuch unternommen, mit aller Kraft zu zwitschern, das ganze aber nicht so richtig gelingen. Zwei stecknadelkopfgroße Augen blickten an mir hoch, bebender, bräunlich weißer Flaum das ganze Wesen. Und dann hüpfte das Federbündel, aufgeregt mit dem Flaum wippend, schwankend und eben piepsend in das nahe Gebüsch, von wo aus es mich weiter argwöhnisch, hoffnungsvoll, vielleicht auch ein bisschen neugierig beäugte.

Und ich? Ach ich hatte es eilig. Die Straßenbahn (ich wohne in Stuttgart), also die Straßenbahn wartete nicht und überhaupt hatte ich noch viel zu tun an dem Tag. Gerade jetzt kurz vor dem Urlaub noch schnell alle Dinge mehr oder weniger ordentlich zu Ende bringen, den Schreibtisch aufräumen – um dann endlich unbeschwert und froh (jetzt übermorgen, am Dienstag) in den Urlaub fliegen zu können. Unbeschwert wegfliegen um dann an einem anderen Ort ein paar Tage fern aller Probleme verbringen zu können.
Doch dieser kleine Vogel. Der ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Was war mit ihm geschehen? Gibt es um diese Jahreszeit überhaupt noch so kleine Vögel? Ist er aus dem Nest gefallen? Fliegen konnte der sicher noch nicht. Er war verschreckt, hilflos. Und ich bin vorbeigeeilt in meiner täglichen Hast. Hatte doch Wichtigeres im Kopf! Aber ich weiß auch, wie viele Katzen es hier gibt… Ach was, warum machte ich mir überhaupt Gedanken über so eine… Lappalie?! War es nicht vielmehr ich, der hier einen Vogel hatte? Diese Geschichte hatte ich dann doch fast vergessen, bis ich mich wieder an den Predigttext für den heutigen Sonntag machte. Er ist ganz kurz: "Wie ein Sperling verflattert aus seinem Nest, so ein Mensch von seiner Heimat." (Spr 27,8)

Diese erst einmal ganz unscheinbaren Zeilen aus der letzten der großen Sammlung des biblischen Sprüchebuches haben es in sich: Denn das hebräische Original kann ganz unterschiedlich übersetzt werden – und die Art wie es im Sprüchebuch vorkommt kann tatsächlich etwas über den aktuellen Umgang mit den Zu-uns-Flüchtenden, den Geflüchteten unter uns, aussagen.

Doch der Reihe nach: was hat dieser Spruch nun mit der Begegnung vor meiner Haustür zu tun? Nun, zunächst kommt der Vogel im Predigttext dem aus der morgendlichen Begegnung ganz nahe. Im Hebräischen steht da "zippor", gemeint ist wohl ein kleiner, schutzloser Vogel, der eben "zip, zip" macht und der, auch wenn er ausgewachsen ist, immer bedroht bleibt. Wir haben gerade von Lärche, Taube, Nachtigall, Glucke und Storch gesungen (EG 503). Alles positiv besetzte Vögel. In der Bibel kommt häufig der Adler vor, als Bild des machtvollen, schnellen und für seine Jungen fürsoglichen Vogels.
Der "zippor" dagegen, das ist der kleine aus dem Nest gefallene Sperling. Jederzeit kann es passieren: das aufgeschreckte Wegflattern – und das Weggehen aus der Heimat. Im Alten Testament werden ganze Völker, deren Heimat zerstört wird, immer wieder mit solchen kleinen Vögeln in Verbindung gebracht. Am Ende wird sogar dem damaligen großen und mächtigen Reich von Assur die Macht und der Reichtum wie ein Nest genommen, sodass am Ende, so heißt es im Buch Jesaja, "keiner mehr da ist, der mit den Flügeln schlug, und keiner, der den Schnabel aufriss und piepste." (Jes 10,14).

"Wie ein Sperling verflattert aus seinem Nest, so ein Mensch von seiner Heimat."
Dass Menschen ihre Orte verlassen, verlassen müssen, das ist im Alten Testament etwas ganz Alltägliches: "Rühme dich nicht des morgigen Tages, denn du weißt nicht, was ein Tag gebiert." (Spr 27,1) steht dann auch programmatisch am Anfang der Sprüchesammlung, in der unser Vers vorkommt. Aber können wir das nicht gerade auch in unserer Zeit erleben: ob nun jeden Abend in den Nachrichten, angesichts des schnell hergerichteten Containerdorfs für Flüchtlinge in der Kanalstraße, oder indem wir an unsere eigenen oder an unsere Familiengeschichten denken. Die ganze Braike wurde einmal vor allem für aus der Heimat Vertriebene gebaut. Und während wir hier Gottesdienst feiern warten Menschen am Ufer des Mittelmeeres auf die (scheinbar?) rettende Überfahrt.

2.
Vor kurzem traf ich Daria, eine Frau aus dem Jemen, die wie ich an der Universtität arbeitet. Sie ist vor ein paar Jahren nach Deutschland gekommen. Eigentlich weil sie Ärztin werden wollte und dann so schnell wie möglich zurück. Jetzt ist sie immer noch da und kann nicht mehr zu ihrer Familie. Denn sie ist Christin, wie ihre Verwandten im Jemen auch, die im Bürgerkrieg, der dort aktuell tobt nur noch unter Lebensgefahr das Haus verlassen können. Ohnmächtig kann sie nur noch von ferne das Leid ihrer Freunde und Geschwister miterleben. Sie fragt sich, mit welchem Recht sie hier gelandet ist – und sonst keiner der von ihr geliebten Menschen. Sie sagt sie könnte hier Karriere machen, doch sie ist wie gelähmt. Sie fühlt sich schuldig, sie weiß nicht wie.

"Wie ein Sperling verflattert aus seinem Nest, so ein Mensch von seiner Heimat."
Man kann auch sinngemäß übersetzen: "Wie ein Sperling mutwillig aus seinem Nest wegfliegt, so auch der Mensch, der seinen ihm anvertrauten Ort verlässt." Der Vers stellt damit angesichts von Flucht und Vertreibung eine Schuldfrage, die in vielen Fällen ganz absurd erscheint und die doch immer mit dabei ist: Konnte ich wirklich nichts anderes tun als zu fliehen? Menschen zurücklassen, die eigentlich auf meine Fürsorge angewiesen sind, fragt sich Daria.

Wer flieht „zu Recht“ und wer „zu Unrecht“?

Diese Frage stellen sich nicht nur die Flüchtenden selbst. Sie geht seit vielen Wochen durch alle unsere Medien, sie ist die Grundlage, auf in diesem Jahr über 200.000 Asylanträge entschieden werden. Es bleibt ein mulmiges Gefühl zurück am Ende. Für alle Beteiligten: Habe ich dem Schutzbedürftigen am Ende doch keinen Schutz gewährt? Bin ich geflohen, auch wenn ich es hätte vermeiden können, ja vermeiden sollen? Wen habe ich, wissentlich oder unwissentlich, verjagt und hinausgetrieben aus seinem Heimatort?

3.
Da ist Georg, der, wie er selbst sagt, „irgendwann aus diesem ganzen dummen Land abgehauen“ ist. Mal arbeitete er in Tokio an einem Businessprojekt, mal trampte er durch die USA. Nur eines wollte er nie mehr: zurück in die Eifel, wo seine Mutter wohnt, die „wohl nicht mehr ganz richtig im Kopf“ ist, wo seine Schwester wie alle anderen auch „irgendwen von nebenan“ geheiratet hat, und wo er obendrein auch noch seine Schulden zurückzahlen müsste, würde er sich dort einmal wieder sehen lassen. Das hat er jetzt seit fünfzehn Jahren nicht getan. „Was soll’s: Du kannst Dich jeden Tag neu erfinden!“ „You Only Live Once“ - „Man lebt nur einmal“. Ja, es geht seiner Mutter schlecht, aber „ich gehöre zur ganzen Welt, Mann, nicht zu irgendwem“. Später erfahre ich noch eine andere Seite der Geschichte: Seine Familie hat sich mit ihm überworfen, als er noch in der Schule war. Er wollte unbedingt raus aus dem Dorf, sie versuchten ihn mit allen Mitteln zu halten. Bis er dann ganz weg war.

Wer ist im Recht und wer im Unrecht? Ist das eigentlich die erste Frage, die sich angesichts von fliehenden Menschen stellt? Ersteinmal ist da nur nackte Panik. Der Vogel der plötzlich aufflattert, weil sich jemand an seinem Nest zu schaffen macht wägt nicht zunächst sachlich das Für und Wider ab. Er will in diesem Moment auch nicht an einen bestimmten Ort, sondern, wie Georg es formulierte, „einfach nur raus“.

4.
Die Gewissensbisse, die kommen erst danach. Der Migrationssoziologe Paul Collier spricht davon, dass eigentlich jede Flucht, niemals nur den, der flieht, sondern eigentlich drei Gruppen von Menchen mit einschließt: diejenigen, die zurückbleiben, diejenigen, die fliehen, diejenigen, bei denen Schutz gesucht wird. Sie alle werden sich am Ende einer Flucht fragen, ob sie eigentlich das “Richtige” getan haben.
Natürlich kann ich die Augen verschließen - vor den Gründen, weshalb so viele weggehen. Ich kann die Augen verschließen - vor dem neuen Land, in das ich komme. Ich kann die Augen verschließen - vor denjenigen, die hier ankommen und um Aufnahme bitten. Aus Angst hinzusehen richte ich dann Gitter auf zwischen Menschen. Ich erlebe den anderen als Teil einer Menschengruppe. Ich trenne zwischen denen, die zu mir gehören, und denjenigen, mit welchen nach anderen Regeln zu verfahren ist. Doch das mulmige Gefühl wird auch dann bleiben: was ist das, das „Richtige“ tun?

5.
"Wie ein Sperling verflattert aus seinem Nest, so ein Mensch von seiner Heimat." 
 Ich lese gerne im Buch der Sprüche in der Bibel, weil es, auch wenn es aus dem achten Jahrhundert vor Christus stammt, sehr konkret wird: Die Tatsache dass Menschen immer wieder fliehen, fliehen müssen wird hier nicht abgestritten; ebensowenig die schier unauflösbare Schuldfrage, die sich dadurch stellt. Denn: grundlos verlässt kein Vogel sein Nest. Aber der Text bleibt hier nicht stehen. Die Spruchsammlung umrahmt unseren Vers mit Anweisungen zu wahrhaftiger, gegenseitiger Zuwendung, zu guter Nachbarschaft, zur Freundschaft. Die steht vor allem gegen die immer gegebene Gefahr des Heimatloswerdens!

Zwar ist das Sprüchebuch auch so realistisch, eine solide wirtschaftliche Grundlage und vor allem ein gerechtes Staatswesen nicht zu verachten. Selbst vor verkehrten Menschen wird gewarnt: Denjenigen, die Menschen gegeinander aufhetzen und dabei jedes gute Miteiander untergraben. Auch die finden wir in unseren Tagen. Entscheidend ist aber dann doch etwas anderes und viel einfacheres: Dass Menschen sich einander zuwenden, durch Freundschaft, den Ort, an dem sie sind, erst zur Heimat machen.

Denn wirklich zur Bedrohung wird die Heimatlosigkeit erst dann, wenn kein Freund da ist, der hilft die Heimat zu bewahren – oder der an einem neuen Ort hilft, eine neue zu begründen. 

Und für das Sprüchebuch steht ohne Zweifel, dass Gott an einer jeden solchen Freundschaft teilhat. Seine Zuwendung ermöglicht es, dass Menschen füreinander handeln, miteinander das Reich Gottes suchen können, befreit von der Angst, heimatlos zu werden.

Wir sind Bürger des Reiches Gottes und haben unsere Heimat immer schon bei ihm. Das befreit: Vom ängstlichen Kreisen um das eigene Nest, vom argwöhnischen Beobachten der Flüge der anderen.

Seht die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Sind wir denn nicht viel mehr als sie?
(vgl. Lesung Mt 6,25-34)

Amen.

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