Montag, 17. August 2015

Sylvia Unzeitig: "Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen" - Zuflucht in der Fremde. Predigt zu Matthäus 2,13-15 und Hosea 11,1



„Ein umherirrender Aramäer war mein Va­ter“, so wird ein Israelit im 5. Buch Mose (Dtn. 26,5) aufgefordert zu bekennen. Ihm soll bewusst sein, dass sein Leben von Gott geführt ist, dass es über Berge und Täler zu einem guten Ziel gelangt.
„Der Ewige hörte auf unser Rufen“, so heißt es dort, „und sah unser Elend, und führte uns aus Ägypten weg mit starker Hand und ausge­strecktem Arme, mit großen Schrec­ken, unter Zeichen und Wundertaten. Er brach­te uns an diesen Ort und gab uns die­ses Land, ein Land, das von Milch und Ho­nig fließt.“
Das Los der Flucht, die Erfahrung der Hei­mat­losigkeit durchzieht die Ge­schichten der Bibel. Da ist es wohl kein Wunder, dass selbst der Gottes­sohn dieses Schicksal mit uns teilt. Ich lese aus dem Matthäus­evan­ge­lium, Ka­pi­tel 2:

„Als sie (die Weisen) aber hinweggezogen waren, siehe, da erschien der Engel des Herrn dem Jo­sef im Traum und sprach: Steh auf, nimm das Kindlein und seine Mutter mit dir und flieh nach Ägypten und bleib dort, bis ich dir's sage; denn Herodes hat vor, das Kindlein zu suchen, um es umzubringen. Da stand er auf und nahm das Kindlein und seine Mutter mit sich bei Nacht und entwich nach Ägypten und blieb dort bis nach dem Tod des Herodes, damit erfüllt würde, was der Herr durch den Pro­pheten gesagt hat, der da spricht (Hosea 11,1): »Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen.« 

Für viele Bibelkritiker ist diese Stelle ein ge­fundenes Fressen! Wie wir in der Schriftle­sung gehört haben, wendet sich Gott im Ho­seabuch an sein Volk Israel, das er vor lan­ger Zeit aus Ägypten befreit hatte. Matthäus sieht darin aber eine Verheißung auf Jesus hin. So wie er viele Text­stel­len aus dem Al­ten Testament auf Jesus hin deutet. Es mag für man­chen schief klingen, aber für Matt­häus, der Jesus als den lang verhei­ßenen Messias sieht, passt alles. Das haben viele Zweifler nicht be­grif­fen: dass die Bibel kein Tatsachenbericht sein will, sondern sie viel­mehr Ge­scheh­nisse interpretiert. So wissen wir z. B. auch, dass der Kinder­mord in Bet­lehem wahrscheinlich eine Legende ist, weil er in anderen Quellen, die es über Herodes gibt, nirgends belegt ist. Aber was ge­sichert ist, ist die Tatsache, dass Herodes ein grau­samer und macht­besessener Herrscher war, der über Leichen ging, auch über die seiner Söhne, um seine Macht zu er­halten. Möglicherweise ist die Geschichte vom Kin­dermord ein Nach­hall auf die Schandtaten des Herodes.
Auch die Flucht nach Ägypten soll – laut Wis­­senschaft – nur eine Legen­de sein, weil es ja vermutlich auch keinen Kindermord ge­geben hat. Und trotzdem gibt es in Ägyp­ten zahlreiche Kirchen und Orte, die sich auf Er­eignisse beziehen, die auf der Flucht der Hei­ligen Familie in Ägypten ge­schehen sein sollen. Nach Auffassung der Kopten, so nen­nen sich die ägypti­schen Christen, bereiste die heilige Familie das Land drei Jahre und elf Monate lang. Auf dem Weg finden sich viele Stationen, Gedenk­kirchen und Grotten, wo das Jesuskind Halt gemacht haben soll - wie etwa eine Gedenkkirche in Mittel­ägyp­ten, nicht erbaut, sondern aus ei­nem riesi­gen Felsblock heraus geschlagen. In einer Grotte hat nach al­ten Berichten die Heilige Familie Quartier genommen. Heute ist der Ort eine winzige Kapelle, geweiht der Mutter Jesu.
Als kritischer, aufgeklärter Mensch schüttelt man da den Kopf und fragt sich, wie man das nur glauben kann, wo doch der Reise­weg im Evange­lium nicht einmal aufgeführt ist.
Doch es gibt eine Reihe von apokryphen Kind­heits­evan­gelien, in denen diese Lücke bei Matthäus ausgefüllt wird. So heißt es z. B. bei „Pseudo-Matthäus“: 

In der Begleitung Josefs waren drei Knaben und bei Maria ein Mädchen, die die Rei­se mitmachten. Und siehe, plötzlich kamen aus der Höhle viele Drachen, vor deren Anblick die Kinder vor bangem Entsetzen laut aufschrien.
Da stieg Jesus vom Schoß seiner Mutter herab und stellte sich vor den Drachen auf seine Füße. Sie aber fielen huldigend vor ihm nieder, und nach dieser Huldigung entfernten sie sich.

Man versteht nun, warum solche Texte nicht den Weg in den Kanon der biblischen Schrif­ten gefunden haben! Sie sind mit märchen­haften Zügen und blumenreichen Details ausgeschmückt, so dass auch ein halbwegs gebildeter Mensch versteht, dass hier nur im gewöhnlichen Gefühlsbe­reich gefischt wird.
Wie ist das aber nun mit den Texten der Kindheitsgeschichte im richtigen Matthäus-Evangelium? Wie sind sie zu verstehen?
Die wunderbare Rettung des Jesuskindes weckt etliche Anklänge im Al­ten Testament: da gibt es ein ähnliches Szenario bei der Geburt des Mo­se. Auch in seiner Zeit wur­den Kinder ihren Müttern weggenommen und von den ägyptischen Soldaten getötet. Doch Mose entkam wie durch ein Wunder.
Gottes Botschaft wird dem Josef im Traum vermittelt, so wie auch der alt­testamentliche Josef Gott im Traum vernahm. Und es gibt Anklänge in der antiken Literatur, die jetzt aber zu weit führen würden.
Analogien helfen uns, das Leben zu ent­schlüsseln. Indem Begebenhei­ten auf ähn­liche Weise schon einmal da gewesen sind, können wir Situa­tionen unseres Lebens besser verstehen und deuten. Das kann zwar wis­senschaftlich nicht nachgewiesen werden, aber das Herz versteht es trotzdem auf eine ganz tief empfundene Weise.
Diese Wahrheit des Lebens spürt man vor allem, wenn das Leben be­droht ist. Wie viele Geschichten gibt es vom Krieg und von der Flucht, wo die Erzähler sich auf wundersa­me Weise gerettet fühlen. Es war viel­leicht nur eine Tabakdose in der Brusttasche, die den Schuss auf’s Herz abgewehrt hat. Zu­fall? Oder der Soldat, der die aus Ostpreu­ßen flüch­tenden Frauen ermahnt, noch in der gleichen Nacht die rettende Brücke über die Oder zu überqueren – da sie in der näch­sten Stunde gesprengt wird. So ge­heim­nisvoll wie der Soldat auftauchte, verschwand er auch wieder.
Wenn wir uns nicht in solch bedrohlicher La­ge befinden, tun wir solche Geschichten als Zufall ab  - der Verstand wehrt sich ge­gen Wunder. Denn der „gute Kamerad“ zu meiner Seite fiel ja trotzdem.
Die Kinder auf der norwegischen Insel Utöya, die vor vier Jahren dem Attentäter Anders Breivik zum Opfer fielen, hatten wohl auch keinen Schutzengel? Und doch gab es auch die Überlebenden, die uns hinter­her die unglaublichsten Geschichten erzählen.
Wir können nur unser eigenes Leben be­ur­teilen und fühlen. Wenn wir ei­ne Gesamt­schau versuchen, wo dann alles ins ratio­na­le Bild passt, ver­lieren wir die innere Stim­me, die uns auf Gottes geheimnisvolles Wir­ken verweist.
Und davon reden die Geschichten der Bibel. Jakob spürt auf seiner Flucht vor Esau, dass Gott da ist, er weiß nicht wie, und dass er trotz seines Betrugs an Vater und Bruder von diesem Gott angenommen ist. Josef vertraut darauf, dass alles gut wird, auch wenn er sich die Schwan­gerschaft Marias nicht erklären kann. Auch die Hirten spüren, dass mit dem kleinen Kind in der ärmlichen Höhle etwas Neues begonnen hat, das ihrem elenden Dasein Hoffnung und Glanz gibt. Und ist dieses tiefe existenzielle Gefühl nicht bei der Geburt eines jeden Kindes da? Diese völlig unbegründete Gewissheit, dass diese Welt ein gutes Ziel hat trotz aller Be­drohung durch Terror und Kriege und die an­haltende Wirt­schafts­ungerechtigkeit und Kli­maveränderung?
Ja, der Messias kennt das von Anfang an: Bedrohung des Lebens, Flucht und Entbeh­rung, das Leben der armen Leute, doch auch die an­dere Seite: Solidarität der Wei­sen, Aufnahme in Ägypten, Gottes Schutz. Er teilt dieses Leben in all seinen Aspekten mit uns – das wollte Matt­häus uns Nachge­borenen eindrücklich vor Augen stellen. Und wenn der Messias es zu einem guten Ende gebracht hat, werden auch wir dies können, auch wenn es noch so viele Entbehrungen geben sollte. So be­kennen auch wir mit dem Israeliten:

„Mein Vater war ein umherirrender Aramäer und zog hinab nach Ägypten und war dort ein Fremdling mit wenig Leuten und wurde dort ein großes, starkes und zahlreiches Volk. Aber die Ägypter behandelten uns schlecht und bedrückten uns und legten uns einen harten Dienst auf. Da schrien wir zu dem HERRN, dem Gott unserer Väter. Und der HERR erhörte unser Schreien und sah unser Elend, unsere Angst und Not und führte uns aus Ägypten mit mächtiger Hand und ausgerecktem Arm und mit großem Schrecken, durch Zeichen und Wunder, und brachte uns an diese Stätte und gab uns dies Land, darin Milch und Honig fließt.
Nun bringe ich die Erstlinge der Früchte des Landes, das du, HERR, mir gegeben hast. - Und du sollst sie niederlegen vor dem Herrn, deinem Gott, und anbeten vor dem HERRN, deinem Gott, und sollst fröhlich sein über al­les Gut, das der HERR, dein Gott, dir und deinem Hause gegeben hat, du und der Fremdling, der bei dir lebt.“
Amen.

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