„Ein umherirrender Aramäer war mein Vater“, so wird ein Israelit im 5.
Buch Mose (Dtn. 26,5) aufgefordert zu bekennen. Ihm soll bewusst sein, dass
sein Leben von Gott geführt ist, dass es über Berge und Täler zu einem guten
Ziel gelangt.
„Der Ewige hörte auf unser Rufen“, so heißt es dort, „und sah unser
Elend, und führte uns aus Ägypten weg mit starker Hand und ausgestrecktem
Arme, mit großen Schrecken, unter Zeichen und Wundertaten. Er brachte uns an
diesen Ort und gab uns dieses Land, ein Land, das von Milch und Honig
fließt.“
Das Los der Flucht, die Erfahrung der Heimatlosigkeit durchzieht die
Geschichten der Bibel. Da ist es wohl kein Wunder, dass selbst der Gottessohn
dieses Schicksal mit uns teilt. Ich lese aus dem Matthäusevangelium, Kapitel
2:
„Als sie (die Weisen) aber hinweggezogen waren, siehe, da erschien der
Engel des Herrn dem Josef im Traum und sprach: Steh auf, nimm das Kindlein und
seine Mutter mit dir und flieh nach Ägypten und bleib dort, bis ich dir's sage;
denn Herodes hat vor, das Kindlein zu suchen, um es umzubringen. Da stand
er auf und nahm das Kindlein und seine Mutter mit sich bei Nacht und entwich
nach Ägypten und blieb dort bis nach dem Tod des Herodes, damit erfüllt
würde, was der Herr durch den Propheten gesagt hat, der da spricht (Hosea
11,1): »Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen.«
Für viele Bibelkritiker ist diese Stelle ein gefundenes Fressen! Wie
wir in der Schriftlesung gehört haben, wendet sich Gott im Hoseabuch an sein
Volk Israel, das er vor langer Zeit aus Ägypten befreit hatte. Matthäus sieht
darin aber eine Verheißung auf Jesus hin. So wie er viele Textstellen aus dem
Alten Testament auf Jesus hin deutet. Es mag für manchen schief klingen, aber
für Matthäus, der Jesus als den lang verheißenen Messias sieht, passt alles.
Das haben viele Zweifler nicht begriffen: dass die Bibel kein
Tatsachenbericht sein will, sondern sie vielmehr Geschehnisse interpretiert.
So wissen wir z. B. auch, dass der Kindermord in Betlehem wahrscheinlich eine
Legende ist, weil er in anderen Quellen, die es über Herodes gibt, nirgends
belegt ist. Aber was gesichert ist, ist die Tatsache, dass Herodes ein grausamer
und machtbesessener Herrscher war, der über Leichen ging, auch über die seiner
Söhne, um seine Macht zu erhalten. Möglicherweise ist die Geschichte vom Kindermord
ein Nachhall auf die Schandtaten des Herodes.
Auch die Flucht nach Ägypten soll – laut Wissenschaft – nur eine Legende
sein, weil es ja vermutlich auch keinen Kindermord gegeben hat. Und trotzdem
gibt es in Ägypten zahlreiche Kirchen und Orte, die sich auf Ereignisse
beziehen, die auf der Flucht der Heiligen Familie in Ägypten geschehen sein
sollen. Nach Auffassung der Kopten, so nennen sich die ägyptischen Christen,
bereiste die heilige Familie das Land drei Jahre und elf Monate lang. Auf dem
Weg finden sich viele Stationen, Gedenkkirchen und Grotten, wo das Jesuskind
Halt gemacht haben soll - wie etwa eine Gedenkkirche in Mittelägypten, nicht
erbaut, sondern aus einem riesigen Felsblock heraus geschlagen. In einer
Grotte hat nach alten Berichten die Heilige Familie Quartier genommen. Heute
ist der Ort eine winzige Kapelle, geweiht der Mutter Jesu.
Als kritischer, aufgeklärter Mensch schüttelt man da den Kopf und fragt
sich, wie man das nur glauben kann, wo doch der Reiseweg im Evangelium nicht
einmal aufgeführt ist.
Doch es gibt eine Reihe von apokryphen Kindheitsevangelien, in denen
diese Lücke bei Matthäus ausgefüllt wird. So heißt es z. B. bei
„Pseudo-Matthäus“:
In der Begleitung Josefs waren drei Knaben und bei Maria ein Mädchen,
die die Reise mitmachten. Und siehe, plötzlich kamen aus der Höhle viele
Drachen, vor deren Anblick die Kinder vor bangem Entsetzen laut aufschrien.
Da stieg Jesus vom Schoß seiner Mutter herab und stellte sich vor den
Drachen auf seine Füße. Sie aber fielen huldigend vor ihm nieder, und nach
dieser Huldigung entfernten sie sich.
Man versteht nun, warum solche Texte nicht den Weg in den Kanon der
biblischen Schriften gefunden haben! Sie sind mit märchenhaften Zügen und
blumenreichen Details ausgeschmückt, so dass auch ein halbwegs gebildeter
Mensch versteht, dass hier nur im gewöhnlichen Gefühlsbereich gefischt wird.
Wie ist das aber nun mit den Texten der Kindheitsgeschichte im richtigen
Matthäus-Evangelium? Wie sind sie zu verstehen?
Die wunderbare Rettung des Jesuskindes weckt etliche Anklänge im Alten
Testament: da gibt es ein ähnliches Szenario bei der Geburt des Mose. Auch in
seiner Zeit wurden Kinder ihren Müttern weggenommen und von den ägyptischen
Soldaten getötet. Doch Mose entkam wie durch ein Wunder.
Gottes Botschaft wird dem Josef im Traum vermittelt, so wie auch der alttestamentliche
Josef Gott im Traum vernahm. Und es gibt Anklänge in der antiken Literatur, die
jetzt aber zu weit führen würden.
Analogien helfen uns, das Leben zu entschlüsseln. Indem Begebenheiten
auf ähnliche Weise schon einmal da gewesen sind, können wir Situationen
unseres Lebens besser verstehen und deuten. Das kann zwar wissenschaftlich
nicht nachgewiesen werden, aber das Herz versteht es trotzdem auf eine ganz
tief empfundene Weise.
Diese Wahrheit des Lebens spürt man vor allem, wenn das Leben bedroht
ist. Wie viele Geschichten gibt es vom Krieg und von der Flucht, wo die
Erzähler sich auf wundersame Weise gerettet fühlen. Es war vielleicht nur
eine Tabakdose in der Brusttasche, die den Schuss auf’s Herz abgewehrt hat. Zufall?
Oder der Soldat, der die aus Ostpreußen flüchtenden Frauen ermahnt, noch in
der gleichen Nacht die rettende Brücke über die Oder zu überqueren – da sie in
der nächsten Stunde gesprengt wird. So geheimnisvoll wie der Soldat
auftauchte, verschwand er auch wieder.
Wenn wir uns nicht in solch bedrohlicher Lage befinden, tun wir solche
Geschichten als Zufall ab - der
Verstand wehrt sich gegen Wunder. Denn der „gute Kamerad“ zu meiner Seite fiel
ja trotzdem.
Die Kinder auf der norwegischen Insel Utöya, die vor vier Jahren dem
Attentäter Anders Breivik zum Opfer fielen, hatten wohl auch keinen
Schutzengel? Und doch gab es auch die Überlebenden, die uns hinterher die
unglaublichsten Geschichten erzählen.
Wir können nur unser eigenes Leben beurteilen und fühlen. Wenn wir eine
Gesamtschau versuchen, wo dann alles ins rationale Bild passt, verlieren
wir die innere Stimme, die uns auf Gottes geheimnisvolles Wirken verweist.
Und davon reden die Geschichten der Bibel. Jakob spürt auf seiner Flucht
vor Esau, dass Gott da ist, er weiß nicht wie, und dass er trotz seines Betrugs
an Vater und Bruder von diesem Gott angenommen ist. Josef vertraut darauf, dass
alles gut wird, auch wenn er sich die Schwangerschaft Marias nicht erklären
kann. Auch die Hirten spüren, dass mit dem kleinen Kind in der ärmlichen Höhle
etwas Neues begonnen hat, das ihrem elenden Dasein Hoffnung und Glanz gibt. Und
ist dieses tiefe existenzielle Gefühl nicht bei der Geburt eines jeden Kindes
da? Diese völlig unbegründete Gewissheit, dass diese Welt ein gutes Ziel hat
trotz aller Bedrohung durch Terror und Kriege und die anhaltende Wirtschaftsungerechtigkeit
und Klimaveränderung?
Ja, der Messias kennt das von Anfang an: Bedrohung des Lebens, Flucht
und Entbehrung, das Leben der armen Leute, doch auch die andere Seite:
Solidarität der Weisen, Aufnahme in Ägypten, Gottes Schutz. Er teilt dieses
Leben in all seinen Aspekten mit uns – das wollte Matthäus uns Nachgeborenen
eindrücklich vor Augen stellen. Und wenn der Messias es zu einem guten Ende
gebracht hat, werden auch wir dies können, auch wenn es noch so viele
Entbehrungen geben sollte. So bekennen auch wir mit dem Israeliten:
„Mein Vater war ein umherirrender Aramäer und zog hinab nach Ägypten und
war dort ein Fremdling mit wenig Leuten und wurde dort ein großes, starkes und
zahlreiches Volk. Aber die Ägypter behandelten uns schlecht und bedrückten
uns und legten uns einen harten Dienst auf. Da schrien wir zu dem HERRN,
dem Gott unserer Väter. Und der HERR erhörte unser Schreien und sah unser Elend,
unsere Angst und Not und führte uns aus Ägypten mit mächtiger Hand und
ausgerecktem Arm und mit großem Schrecken, durch Zeichen und Wunder, und
brachte uns an diese Stätte und gab uns dies Land, darin Milch und Honig
fließt.
Nun bringe ich die Erstlinge der Früchte des Landes, das du, HERR, mir
gegeben hast. - Und du sollst sie niederlegen vor dem Herrn, deinem Gott, und
anbeten vor dem HERRN, deinem Gott, und sollst fröhlich sein über alles Gut,
das der HERR, dein Gott, dir und deinem Hause gegeben hat, du und der
Fremdling, der bei dir lebt.“
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